Was ist da los? Erst vor zwei Tagen sagte eine Umfrage der Tamedia-Zeitungen und von «20 Minuten» den Gegnern der BVG-Reform einen deutlichen Start-Ziel-Sieg voraus. Laut der ersten von zwei Umfragewellen wollen 59 Prozent der Stimmberechtigten am 22. September «sicher» oder «eher» ein Nein in die Urne einlegen.
Nur 33 Prozent der Befragten wollen demnach der Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) zustimmen, wie sie das Parlament, der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien beschlossen haben. Oder anders ausgedrückt: Die geschlossene Linke – und mit ihnen die Gewerkschaften – können fünf Wochen vor dem Abstimmungssonntag bereits den Champagner kalt stellen. Die Schlacht um ihr Referendum schien geschlagen.
Doch nun wackelt dieser sicher geglaubte Abstimmungssieg. Die am Freitag veröffentlichte Umfrage der SRG zu derselben Abstimmung sagt den Gegnern der BVG-Reform nämlich «nur» noch einen Nein-Stimmenanteil von 39 Prozent voraus. Dafür äussern sich 12 Prozent noch unentschlossen.
Die bürgerlichen Befürworter können nach dem Umfrage-Schock vom Mittwoch also aufatmen. «Sicher» oder «eher» Ja-Stimmen zur Reform der beruflichen Vorsorge wollen laut SRG-Umfrage 49 Prozent. Eine Differenz von 10 Prozentpunkten. Beim Nein-Stimmen-Anteil ist der Unterschied zwischen den Prognosen mit 16 Prozentpunkten sogar noch grösser.
Fragt sich, wie kann es zu einem solch grossen Unterschied kommen zwischen den beiden Umfragen? Zum Vergleich: Zur gleichzeitig stattfindenden Abstimmung über die Biodiversitäts-Initiative kommen beide Umfragen zu exakt derselben Prognose: 51 Prozent der Stimmberechtigten würden derzeit «sicher» oder «eher» ein Ja einlegen.
Und am Fehlerbereich der beiden Umfragen kann es auch nicht liegen: Bei der Tamedia-/«20 Minuten»-Umfrage der LeeWas GmbH beträgt dieser +/-1,6 Prozentpunkte. Bei der SRG-Umfrage vom Umfrageinstitut gfs.bern wird der Unsicherheitsbereich mit +/-2,8 Prozentpunkten angegeben.
Woher also rührt der grosse Unterschied in den beiden Umfragen zu ein und derselben Abstimmungsfrage? Ein Erklärungsansatz sind die Unentschlossenen im laufenden Abstimmungskamp zur BVG-Reform:
Zudem weist gfs.bern explizit darauf hin, dass der Abstimmungskampf und die Meinungsbildung erst einsetze und dieser «nachweislich das Ja/Nein-Verhältnis beeinflussen» könne. «Hinzu kommen Effekte aus der noch unbekannten Mobilisierung durch die Kampagnen», so die Meinungsforscher. Ähnlich tönt das Kleingedruckte bei LeeWas.
Die Umfrageinstitute haben jedoch noch eine andere Erklärung bereit für die unüblich grosse Differenz ihrer Prognosen. Wie die Online-Portale von «20 Minuten» und den Tamedia-Zeitungen am Freitag berichten, soll das Rechendebakel des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) bei der AHV Schuld sein. Der Bund hat sich bei der langfristigen Finanzprognose bekanntlich um 4 Milliarden Franken verschätzt.
Die Umfrage von gfs.bern lief nämlich vom 29. Juli bis zum 12. August - also grösstenteils noch vor der Information der Öffentlichkeit durch das BSV am 6. August übers AHV-Debakel. Die Tamedia-/«20 Minuten»-Umfrage dagegen ist erst am 7./8. August durchgeführt worden.
Darauf verweist auch Radio SRF in der Sendung «Heute Morgen» in einer Stellungnahme zu der «aussergewöhnlich grossen» und «seltenen» Differenz der Umfragewerte. Fazit: Es werde spannend zu beobachten, wie sich die Werte der Umfragen bis am Abstimmungssonntag entwickelten.
Auch wenn die falsche Finanzprognose nichts direkt zu tun hat mit der BVG-Reform, scheine «dieses Ereignis (...) das Vertrauen in die Behörden beschädigt zu haben», heisst es in dem Bericht. Der Co-Chef von gfs.bern, Lukas Golder, spricht denn auch einem «kritischen Ereignis». Die Umfrage-Daten vor und nach diesem Tag würden sich unterscheiden.
Golder rechnet allerdings nicht damit, dass der Effekt ganz verschwinden wird: «Das Ereignis ist geeignet, um einen Trend auszulösen, der von den Behörden schwierig zu kontern ist.» Denn seit einigen Jahren lasse sich feststellen, dass bei Referenden im Verlauf des Abstimmungskampfs tendenziell die Gegner zulegen könnten. Zudem verweisen Lukas Golder von gfs.bern und Fabio Wasserfallen von LeeWas in den Berichten auf die unterschiedliche Methodik ihrer Umfragen.
Unweigerlich werden damit aber auch Erinnerungen wach an die letzte grosse Umfrage-Differenz in einem eidgenössischen Abstimmungskampf: Vor genau zwei Jahren im Vorfeld der Verrechnungssteuer-Vorlage. Die Umfrage von «20 Minuten» und Tamedia wies damals auf ein deutliches Nein hin. In der ersten Welle sagten 30 Prozent Ja und 53 Prozent Nein. Bis zur damals noch dritten durchgeführten Umfragewelle näherten sich die Werte an – am Ende auf je 40 Prozent Ja / Nein.
Diametral entgegengesetzt verlief die Prognose-Kurve von gfs.bern: In der ersten Welle kam die Vorlage in der SRG-Umfrage auf 49 Prozent Zustimmung, 35 Prozent sagten Nein. Die zweite Prognose war fast auf das Prozent das Gegenteil der zweiten Tamedia-Welle: 34:49. Schliesslich näherten sich auch bei gfs.bern die Werte in der zweiten Welle an – auf 47:44.
Im eben erst voll lancierten Kampf um die Abstimmung über die BVG-Reform stehen wir allerdings erst bei der ersten Umfrage von LeeWas und gfs.bern. Wie sich die Meinungsbildung entwickelt, wird von Polit-Auguren und Kampagnen-Leitern auf beiden Seiten also mit Argusaugen verfolgt.
Die SRG-Umfrage wird dabei durch das Forschungsinstitut gfs.bern vorab telefonisch erhoben und mit einer Online-Befragung ergänzt. Die Tamedia-/«20 Minuten»-Umfrage dagegen wird nur online erhoben auf den Webseiten der entsprechenden Medientitel. Hinter diesem Verfahren steht die LeeWas GmbH. Beide Umfragen gelten laut den Machern als repräsentativ für die Schweizer Stimmbevölkerung.
Während erstere also auf das herkömmliche Umfrageverfahren per Telefon setzt, werden bei der Online-Umfrage von LeeWas die Antworten mittels einer «komplexen statistischen Modellierung» angepasst. Ziel: Mögliche Verzerrungen der Antworten auszugleichen, wenn beispielsweise Befürworter oder Gegner im Vorfeld einer Abstimmung mobilisieren.
Während erstere also auf das herkömmliche Umfrageverfahren per Telefon setzt, werden bei der Online-Umfrage von LeeWas die Antworten mittels einer «komplexen statistischen Modellierung» angepasst. Ziel: Mögliche Verzerrungen der Antworten auszugleichen, wenn beispielsweise Befürworter oder Gegner im Vorfeld einer Abstimmung mobilisieren.
Andererseits gelangt die Biodiversitäts-Initiative zur Abstimmung. Dieses von der Naturschutzorganisation Pro Natura lancierte Vorhaben will den Schutz der Natur, der Landschaft und des baukulturellen Erbes der Schweiz stärken. Nebst SP und Grünen unterstützen verschiedene Natur- und Umweltschutzorganisationen die Initiative. Parlament, Bundesrat und bürgerliche Parteien lehnen die Biodiversitäts-Initiative ab.
Hinweis: In einer ersten Version des Artikels waren Zahlen und Farben in den Grafiken und im Text leider falsch dargestellt. Die Redaktion bittet das Versehen zu entschuldigen.
(aargauerzeitung.ch)