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Antisemitismus in der Schweiz: Seit dem Hamas-Angriff gestiegen

Interview

«Wir werden euch jagen und töten» – seit 3 Wochen nimmt Antisemitismus in der Schweiz zu

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel erfahren Jüdinnen und Juden in der Schweiz vermehrt Hass. In welcher Form, wie gefährlich er ist und in welchen «Codes» Antisemiten heute sprechen, sagt Jonathan Kreutner vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund im Interview.
01.11.2023, 17:0901.11.2023, 18:08
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Wie hat die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz die letzten Wochen erlebt?
Jonathan Kreutner:
Viele Jüdinnen und Juden haben Familie und Freunde in Israel und sind bis ins Mark vom Angriff der Hamas erschüttert. Die Brutalität dieses Angriffs war beispiellos. Viele haben anschliessend aus ihrem Umfeld Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität erhalten. Etwa von Freunden und Nachbarn. Auch wir vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund SIG haben etwa fünfzig Solidaritätsmails erhalten. In einem Mail schrieb jemand beispielsweise, wie schockiert er vom Angriff der Hamas sei und dass er hoffe, dass Jüdinnen und Juden sich in der Schweiz weiterhin sicher und zu Hause fühlen können. Grosse Teile der Schweizerinnen und Schweizer fühlen mit uns mit. Das sehen und schätzen wir.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelischen Gemeinschaftsverbunds SIG.
Jonathan Kreutner ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG).Bild: pd

Das klingt sehr schön. Aber ich nehme an, es gibt auch andere Stimmen.
Ja, die gibt es. Unsere Meldestelle für Antisemitismus hat seit dem 7. Oktober 41 Vorfälle verzeichnet. Zum Vergleich: Im gesamten vergangenen Jahr haben wir 57 antisemitische Vorfälle gezählt. Sie kommen meist dort vor, wo auch viele jüdische Menschen leben, also in den Städten Basel, Bern und Zürich.

Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz
Gemäss dem SIG leben in der Schweiz knapp 18'000 Jüdinnen und Juden. «Weit weniger, als viele denken», sagt Kreutner. Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz unterteilt sich in sehr diverse Gemeinden und Ansichten. 2500 bis 3000 der Jüdinnen und Juden in der Schweiz sind streng-orthodox. Weitere 3000 gelten als «modern-orthodox». «Die Mehrheit ist einer säkularen Richtung zuzurechnen», sagt Kreutner. Die Schweizer Jüdinnen und Juden verteilen sich grossmehrheitlich auf die deutsch- und französischsprachigen Landesteile. Die grössten Gemeinschaften sind jene in Zürich und in Genf, wo es mehrere Gemeinden gibt und eine umfangreichere jüdisch-koschere Infrastruktur vorhanden ist.

Was zählt alles als «antisemitischer Vorfall»?
Meistens sind es Beschimpfungen oder höchst hasserfüllte Zuschriften. Wir selbst haben beispielsweise eine Zuschrift erhalten, in der stand: «Wir werden euch jagen und alle töten. So lange, bis von euch niemand mehr lebt.» Wir bekommen aber auch zahlreiche Mails, in denen die Leute Hitler oder den Holocaust verherrlichen. Das ist einfach erschreckend.

Ist es in den letzten Wochen auch zu physischer Gewalt gegen Jüdinnen und Juden gekommen?
Ja, unter den 41 antisemitischen Vorfällen befinden sich vier Tätlichkeiten. Solche kommen in der Schweiz sonst selten vor. Vielleicht eine Tätlichkeit pro Jahr. Eine so starke Zunahme haben auch wir noch nie erlebt.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr für die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz derzeit ein?
Der Nachrichtendienst des Bundes und das Bundesamt für Polizei Fedpol schätzen das Sicherheitsrisiko für jüdische Einrichtungen in der Schweiz als erhöht ein. Obwohl die meisten Jüdinnen und Juden in der Schweiz auch heute im Alltag keine antisemitischen Erfahrungen machen, sorgt das natürlich für Anspannung. Vorfälle im Ausland und Drohungen gegen jüdische Einrichtungen weltweit schwächen das Sicherheitsgefühl der jüdischen Gemeinschaft weiter.

18.10.2023, Berlin: Kerzen stehen vor einem Schild mit der Aufschrift «Stop Antisemitismus» bei einer Mahnwache gegen Antisemitismus nach dem versuchten Brandanschlag in der Nacht zum Mittwoch auf die ...
Am 18. Oktober 2023 fand in Berlin eine Mahnwache gegen Antisemitismus statt. Dies, nachdem es in der Nacht davor zu einem versuchten Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge gekommen ist.Bild: DPA

Wie versucht sich die jüdische Gemeinschaft derzeit zu schützen?
Die lokalen Sicherheitsbehörden haben reagiert. In einer sehr guten und engen Zusammenarbeit mit den Gemeinden haben wir die Sicherheitsmassnahmen rund um jüdische Institutionen entsprechend überprüft, angepasst und verschärft. Wir leben schon seit vielen Jahren mit erhöhten Sicherheitsbedingungen. Dass es jetzt nochmals mehr braucht, ist traurig.

Zur Person und Organisation
Jonathan Kreutner ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Den Dachverband haben 13 jüdische Gemeinden im Jahr 1904 gegründet. Er setzt sich für die Interessen der Schweizer Jüdinnen und Juden ein.
In Zusammenarbeit mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) gibt der SIG jährlich einen Antisemitismusbericht heraus. Darin werden antisemitische Vorfälle in der Schweiz aufgeführt und analysiert. Der SIG erfasst diese Fälle einerseits durch ein eigenes Online-Monitoring. Andererseits betreibt die Organisation eine eigene Meldestelle, die Jüdinnen und Juden via Mail, Website oder Telefon kontaktieren können, wenn sie Antisemitismus erleben.

Wie war die Situation vor dem Angriff der Hamas auf Israel?
Antisemitismus gibt es und gab es in der Schweiz auch davor. Im Vergleich mit dem Ausland konnten wir uns aber glücklich schätzen, dass es hier nur sehr selten zu physischen Übergriffen kam. Antisemitische Beschimpfungen oder Aussagen hörten Jüdinnen und Juden im Alltag aber trotzdem. Insbesondere im Internet haben uns solche Aussagen in den letzten Jahren beschäftigt. Denn sie sind gestiegen. Ganz besonders antisemitische Verschwörungstheorien haben einen Aufschwung erlebt.

Der Antisemitismus, den ihre Gemeinschaft nun erlebt, kommt also nicht aus dem Nichts.
Nein, Antisemitismus kommt in der Schweiz aus allen Milieus: von links- und rechtsextremistischer sowie islamistischer Seite. Und er gärt auf einem Nährboden, der bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Der «Alltags-Antisemitismus» führt in der Schweiz normalerweise nicht direkt zu physischer Gewalt. Er äussert sich in Beschimpfungen oder Zuschriften. Das Gewaltpotenzial wiederum kommt an Orten vor, an denen sich Menschen radikalisieren, in den Extremismus abgleiten. Das können Einzeltäter oder Mitglieder einer extremistischen Gruppierung sein. Das haben Erfahrungen aus zahlreichen Terrorattacken in Europa und weltweit im letzten Jahrzehnt gezeigt.

Auf den Hamas-Angriff hat Israel mit Härte reagiert. Dabei kamen bisher auch auf palästinensischer Seite viele Zivilisten ums Leben. Was sagen Sie zu Israels militärischem Vorgehen?
Man muss hier vorsichtig sein und sich fragen: Was ist passiert und warum ist es passiert? Israel ist angegriffen worden. Die Hamas hat zahllose Zivilisten brutal ermordet. Über zweihundert Menschen entführt. Israel verteidigt sich nun und versucht, den Täter, die Hamas, unschädlich zu machen. Es ist tragisch und unendlich traurig, dass in Gaza weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung entstehen. Israel ist daran gehalten, die Zivilbevölkerung so weit wie möglich zu schützen und das humanitäre Völkerrecht zu beachten.

Aus Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung fanden in der Schweiz jüngst Demonstrationen statt. Was halten Sie davon?
In der Schweiz herrscht Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Jede Person darf für die Sache demonstrieren, die sie für wichtig hält. Die Meinungsfreiheit hört aber dann auf, wenn auf Demonstrationen antisemitische Slogans skandiert werden und es zu Gewaltaufrufen kommt. Wir sehen besorgt und auch schockiert, dass fast an allen entsprechenden Demonstrationen der Slogan «From the River to the Sea» aufgetaucht ist. Das ist kein harmloser Slogan. Im Gegenteil. Er sagt im Grunde aus, dass der Staat Israel ausgelöscht werden soll und dass die darin lebenden Jüdinnen und Juden vertrieben – ins Meer getrieben – werden sollen. Das ist reine Hamas-Propaganda und steht sicher nicht für Frieden.

Pro-Palaestina-Demo am Samstag, 14. Oktober 2023, auf der Schuetzenmatte in Bern. (KEYSTONE/ Marcel Bieri)
An der Pro-Palästina-Demo am Samstag, 14. Oktober 2023, auf der Schützenmatte in Bern waren genau jene Plakate zu sehen, von denen Jonathan Kreutner spricht.Bild: KEYSTONE

Lässt sich in diesem Zusammenhang Antisemitismus und Kritik an Israel aus Ihrer Sicht demnach klar unterscheiden?
Kritik an der Politik Israels ist natürlich nicht automatisch antisemitisch. Sie wird es dann, wenn antisemitische Stereotypen auf Israel oder Israelis angewandt werden oder wenn Israel nach höheren Standards als andere Länder beurteilt wird. Es ist aber in der Praxis oft so, dass es nicht einfach ist, eine klare Trennlinie zu ziehen, wo Kritik aufhört und Antisemitismus anfängt. Vor allem werden heute auch viele solcher Aussagen hinter Codes versteckt, die Intention und die Ideologie dahinter soll so verschleiert werden.

Haben Sie ein Beispiel? Wie sehen solche Codes aus?
In einer Telegram-Gruppe sah ich kürzlich, wie eine Person schrieb: «Israelis sind Meister im Weltbelügen. Und das seit Tausenden von Jahren.» Hier wurde einfach «Juden» durch «Israelis» ersetzt. Es ist sehr klar, dass hier nicht der israelische Staat, den es erst seit 75 Jahren gibt, gemeint ist, sondern der antisemitische Stereotyp einer jüdischen Weltverschwörung. Ähnlich, aber weniger klar ist es, wenn jemand sagt, dass «Israel für alles Unglück in der Welt» verantwortlich ist.

Jüdinnen und Juden dürften sich demnach auch in der Schweiz zunehmend unsicher fühlen. Was wünschen Sie sich in Zeiten wie diesen von der Schweizer Zivilbevölkerung?
Zuallererst ist es für uns alle in diesem Land wichtig, dass die Emotionen des Konflikts nicht hierher hinüberschwappen. Hier sind alle gefragt. Als freiheitliche und demokratische Gesellschaft müssen wir uns gegen Hass, Hetze und Extremismus wehren. Egal, woher er kommt.

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117 Kommentare
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Knäckebrot
01.11.2023 19:20registriert Juni 2017
Er hat nicht zugenommen, er zeigt sich jetzt einfach mehr. Unter der Oberfläche war das schon lange.

Zudem hätten sie weit mehr Anfeindungen zu verzeichnen, wenn Juden mit Kippas in allen Quartieren zu sehen wären.

In Basel machte ich mal mit einem Freund einen Stadtrundgang in einem Kippa. In manchen Quartieren gab es böse Blicke und teils auch Gesten und ein frecher Kommentar. Wenn Juden dort regelmässig durchspazieren würden, käme es 100% auch zu physischen Attacken, wir waren froh, wieder draussen zu sein. Im Gegensatz dazu kann man mit musl. Garderobe durch jedes Quartier.
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Acai
01.11.2023 19:20registriert März 2017
Man kann Israel die Siedlerpolitik vorwerfen. Das war es dann aber auch schon.
Der Hamas muss man vorwerfen, über Jahrzehnte nur Hass geschürt aber nichts Positives aufgebaut zu haben. Iran, Katar, usw genau so. Hamas, IS und Hisbollah finanzieren ist sicher kein Friedensprojekt.
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Project47North
01.11.2023 19:37registriert August 2022
Ich habe eine unbeantwortete Frage.
Warum kann man die Juden nicht einfach in Ruhe lassen?
Ich meine, man muss sie ja nicht unbedingt ins Herz schliessen oder ihr bester Freund werden/sein (bin ich ja auch nicht).
Aber, Verdammt noch mal... Leben und leben lassen.
Man kann noch immer die drohende Faust erheben, wenn einem unmittelbar durch jemand anderes Schaden entstanden ist.
Aber nur, weil er eine andere Religion/Weltanschauung/Herkunft hat, muss man ihn weder bedrohen noch beleidigen.
Das ist armselig und unmenschlich, und stellt einem selbst niedriger als die niedrigste Kreatur.
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