Mein Bus ist da, aber der Busfahrer nicht. Ein vielversprechender Start. Fast 14 Stunden Fahrt stehen bevor, als ich an diesem Sonntagabend in Zürich den grünen Doppelstock-Bus der Linie N06 betrete. Mein Ziel: Berlin. Ich will herausfinden, wieso das uralte Prinzip der Fernbusse praktisch aus dem Nichts zu einer riesigen Erfolgsgeschichte geworden ist.
Die Schweiz hat den Fernbusmarkt noch nicht liberalisiert. Innerhalb des Landes dürfen Fernbusse nach wie vor keine Passagiere transportieren. Im grenzüberschreitenden Verkehr aber hat allein Flixbus letztes Jahr über eine Million Passagiere in und aus der Schweiz gefahren. Die Zürcher Firma Domo Reisen will innerhalb der Schweiz ein Fernbus-Netz aufbauen – mit Strecken auf der Nord-Süd-Achse zwischen Basel, Zürich und dem Tessin und auf der Ost-West-Achse zwischen St.Gallen, Zürich, Bern und Genf. Die Gesuche sind beim Bund eingereicht. Der Nationalrat hat vor kurzem einer Liberalisierung zugestimmt. Die Busbranche scheint auch hierzulande an ihr Ziel zu gelangen.
Ich hingegen verliere meinen ersten Kampf, nämlich jenen, einen der Sitze in der vordersten Reihe im Oberdeck zu ergattern. Eine indische Reisegruppe ist schneller. Der Fahrer, der bei der Anfahrt zu seinem Dienst im Stau stecken blieb, ist endlich angekommen. Mit 20 Minuten Verspätung geht es los. Neben mir lästern zwei deutsche Studentinnen präventiv über Passkontrollen an der Schweizer Grenze. Die Schweizer übertrieben es im Gegensatz zu den Deutschen, meinen sie zu wissen. Eine drastische Fehleinschätzung, wie sich zeigen wird.
Beim ersten Halt in Konstanz empfängt uns die deutsche Bundespolizei. Kontrolliert wird, wer ausländisch aussieht. Der Bus füllt sich. Nicht nur Studenten nutzen die günstige Fahrgelegenheit. Mit dabei sind auch Leute wie Anne, eine Krankenschwester aus Berlin, die Zugfahren «unentspannt» findet, oder der Münchner Berater Janosch, der seine Freundin besucht hat und mit seiner Telefoniererei und seinen Anglizismen («Sorry, hatte ein busy Wochenende!») noch vielen auf den Wecker gehen wird.
Über den Bodensee geht es mit der Fähre. Ein echtes Highlight für Nanda aus Indien. «My bus is on a ship», ruft er freudestrahlend über das Deck. Er ist in den Ferien, verbrachte zwei Tage in der Schweiz und will nun nach München. Auf die Idee, den Zug zu nehmen, wäre er gar nicht erst gekommen. Dass Fernbusse innerhalb der Schweiz verboten sind, will ihm nicht in den Kopf. Zugreisen seien in der Schweiz viel zu teuer, meint er. Ich muss ihm beipflichten: Für ausländische Gäste ohne GA oder Halbtax ist der Schweizer öV ein Luxusprodukt. Die tiefen Fernbus-Preise dürften der Hauptgrund sein, weshalb letztes Jahr schon über 30 Millionen Deutsche Flixbus nutzten.
In Friedrichshafen steigt eine Handvoll Leute ein – und schon wieder die Bundespolizei. Bei der indischen Reisegruppe gibt es eine, wie ich finde, lustige Sprachenverwirrung. Mein Schmunzeln bleibt nicht ungestraft, denn der Beamte hat mich gesehen. Er will meine Identitätskarte sehen, ruft meinen Namen und mein Geburtsdatum zweimal in sein Funkgerät. «Naja, jetzt wissen es alle», kommentiert meine Sitznachbarin lakonisch. Ich bin ein unbeschriebenes Blatt, und so geht die Reise nach einer Überprüfung meiner Personalien in der Datenbank weiter.
In München hat unser Bus eine halbe Stunde Pause. Fahrerwechsel. Zwei nachlässig gekleidete Männer befragen einen Passagier, was er nach Deutschland einführe. Eine seltsame Frage, wie ich finde, doch sie stellen sich als gut verkleidete Zollfahnder heraus.
Auf der Strecke zwischen Zürich und München fahren Flixbus und IC Bus heute bis zu 20 Mal täglich, teils ohne Zwischenhalt. Flixbus hat in Deutschland einen Marktanteil von 80 Prozent und in Europa ein Netz gesponnen, das von Kopenhagen bis nach Zagreb, Palermo und Barcelona reicht. Kein einziger Bus gehört dem Unternehmen selbst. Stattdessen fahren Subunternehmer aus Deutschland, Frankreich oder Italien.
Sie erhalten eine Defizitgarantie und einen Anteil der Erlöse. Die Preise sind einerseits so günstig, weil Flixbus mit diesem Modell flexibel Linien aufbauen und einstellen oder die Kapazitäten anpassen kann. Andererseits verdienen die Busfahrer Löhne, die aus Schweizer Sicht an der Grenze der sozial würdigen Existenz sind. Schweizer Busbetriebe fahren nicht für Flixbus. Das Unternehmen hat aber angekündigt, für den Fall einer Liberalisierung mit Schweizer Partnern ebenfalls Inlandslinien aufbauen zu wollen.
Die beiden Chauffeure Sven und Martin vom Unternehmen Albus – im Nachtbus sind zwei Fahrer an Bord – übernehmen für die nächsten knapp 600 Kilometer nach Berlin. Die Reihen haben sich gelichtet, wir sind noch 51 Passagiere. Jeder hat seine eigene Sitzreihe für sich. Der nächste Halt steht erst in fünfeinhalb Stunden in Leipzig an. Ich versuche erfolglos, das Gratis-WLAN zu nutzen, das vom Fahrer angepriesen wurde. «504 Gateway Timeout» ist die einzige Mitteilung, die ich zu sehen bekomme.
Auf Dauer unterhält das nicht. Ich habe vorgesorgt und eine Serie heruntergeladen. Komma-Glotzen auf der Autobahn, das muss die intelligente Mobilität sein, von der alle sprechen. Andere Mitreisende versuchen in teils atemberaubend akrobatischen Posen, Schlaf zu finden. Es ist ruhig an Bord, schwaches blaues Licht sorgt für Einschlafatmosphäre. Der Bus gleitet auf der Autobahn dahin, links und rechts nichts als dunkle Nacht, unterbrochen von Autobahnraststätten mit klingenden Namen wie «Köschinger Forst» oder «Fränkische Schweiz Ost».
Um zwei Uhr beschliesse ich, ein wenig zu schlafen. Ich bin ein Mann weniger Talente, aber schlafen kann ich fast überall. Könnte. Denn um Viertel nach drei wird es taghell im Bus. Wir stehen auf einer Autobahnraststätte irgendwo im Nirgendwo. Schon wieder betreten Bundespolizisten den Bus. Auch die dritte Kontrolle bringt – Überraschung! – keine Verstösse zutage. Weil die Polizisten aber jeden Passagier in ihrer Datenbank überprüfen, stehen wir eine halbe Stunde auf dem Parkplatz. Rausgehen dürfen wir nicht. Mein Rücken hat sich schon besser angefühlt. Die Sitze sind nicht unbequem, aber auch nicht gerade ein Wasserbett.
Zwei Stunden später treffen wir in Leipzig ein. Die Busfahrer finden die Haltestelle nicht auf Anhieb. «Innenstadt, scheisse», flucht Fahrer Martin, als er die Strassentafel erblickt und bemerkt, dass er seinen Car gerade auf die falsche Spur gelenkt hat. Der Bus füllt sich wieder. Kampflos geben die wenigsten ihren zweiten Platz her, was eine erboste Durchsage zur Folge hat. «Wer zwei Sitze beansprucht, bezahlt bitte auch zwei», mault Busfahrer Sven. Ab jetzt müsste ich also im Sitzen schlafen. Ich beschliesse, stattdessen dem Hopfengott zu huldigen, und hole mir ein Bier – für 1.50 Euro. Ein Fehler, wie sich noch herausstellen wird.
Die Auslastung der Fernbusse liegt etwa bei 50 bis 70 Prozent, soll aber nach dem Willen der Flixbus-Chefs deutlich ansteigen. Bei Fahrten aus der Schweiz ist es üblich, dass man eine Zweierreihe für sich beanspruchen kann. Sowieso gibt es einige Vorurteile, die ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen kann: Sie sind nicht immer laut, eng, unbequem und ständig zu spät dran. Ich habe zwar langwierige Grenzkontrollen erlebt, bei denen Geflüchtete aus den Bussen geholt wurden, stundenlange Verspätungen oder ein verliebtes Pärchen, das im Gotthardtunnel Petting bis an die Grenze zur Schwangerschaft betrieb. Doch das sind Ausnahmen. In der Regel verlaufen die Fahrten ereignislos. Manche Busfahrer sind unterhaltsame Sprücheklopfer, andere schweigen lieber.
Wir aber sind jetzt doch zu spät. Nach einem wunderschönen Sonnenaufgang auf der Autobahn in Brandenburg stehen wir im Stau vor Berlin. Die Blase drückt, das Bier war doch keine so tolle Idee. Natürlich, der Bus hätte ein WC. Aber will ich auf eine Bus-Toilette, nach 14 Stunden Fahrt? Als ausgeruht würde ich meinen Zustand nicht beschreiben. Endlich taucht unsere Endhaltestelle auf.
Sie heisst zwar «Zentraler Omnibusbahnhof», aber wirklich zentral ist dieser Ort zwischen Autobahn und spektakulär hässlichem Kongresszentrum nicht. Sowieso schwankt die Qualität der Fernbus-Haltestellen stark. Der Zürcher Sihlquai ist zentral gelegen, aber so gut wie infrastrukturlos. München hat ein modernes Terminal im Herzen der Stadt, während der Mailänder Busbahnhof in etwa so daherkommt, wie man sich klischiert einen italienischen Busbahnhof vorstellt.
Unser Bus leert sich rasch, das Gepäck wird abgeholt, Pärchen umarmen sich beim Wiedersehen. Auch ich bin erleichtert, und zwar nicht nur wegen des WCs: Zurück werde ich fliegen.