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In der Schweiz gibt es heute nur ein Thema: Der Gotthard-Basistunnel wird eröffnet, mit einer Länge von 57 Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt. Für einmal fühlt sich unser Land als Nabel der Welt. Allerdings ist diese Perspektive ziemlich exklusiv. Das übrige Europa weiss die grosse Leistung durchaus zu schätzen, zeigt sogar etwas Neid. Aber kaum Enthusiasmus.
Es begann damit, dass die Führungstroika der Europäischen Union (EU) durch Abwesenheit glänzte. Weder Ratspräsident Donald Tusk noch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker oder Parlamentspräsident Martin Schulz fühlten sich bemüssigt, in die Schweiz zu reisen, obwohl ihre heutigen Termine kaum dringlich wirkten. Ein Sprecher der Kommission bekräftigte auf Twitter immerhin, man wolle zum Erfolg des Gotthards beitragen.
.@EU_Commission contributes to make #gotthard2016 #gottardo2016 a success once opened: https://t.co/EnPSrUb0RH pic.twitter.com/0KpZVABWva
— Jakub Adamowicz (@jakubadamEU) 1. Juni 2016
Die Staats- und Regierungschefs der Nachbarländer kamen zwar, doch ihre Visite hinterlässt den Eindruck einer Pflichtübung. An der eigentlichen Eröffnung nahm nur der österreichische Bundeskanzler Christian Kern teil. Italiens Regierungschef Matteo Renzi kam für einen Kurzbesuch – der Wahlkampf für die Kommunalwahlen vom Wochenende hatte Vorrang. Viel Zeit für Gespräche über bilaterale Verträge und Personenfreizügigkeit blieb kaum.
In den europäischen
Medien wird über das Grossereignis Gotthard breit berichtet. Vor
allem deutsche Zeitungen widmeten dem Milliardenprojekt viel Raum und
liessen einen gewissen Neid erkennen angesichts der Tatsache, dass
die kleine Schweiz eine solche Gewaltleistung nicht nur im Zeitplan,
sondern auch unter Einhaltung der finanziellen Vorgaben realisieren
konnte. Die Deutschen machten in dieser Hinsicht andere Erfahrungen.
Man denke an den neuen Berliner Flughafen, das Bahnhofsprojekt
Stuttgart 21 oder die Hamburger Elbphilharmonie.
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» spricht von einem «Wunder am Gotthard». Die längste und tiefste Röhre der Welt sei «nicht nur ein umjubeltes Meisterwerk der Ingenieure, sondern auch eines der Demokratie», anerkennt die «Süddeutsche Zeitung». Und «Die Welt» zitiert auf der Suche nach Gründen, «warum Schweizer schaffen, woran Deutschland scheitert», einen langjährigen Deutschland-Korrespondenten einer Zürcher Tageszeitung: «Die Schweizer haben mit ihrer direkten Demokratie einfach mehr Sicherungen eingebaut.»
Die gleiche Zeitung aus dem Springer-Verlag widmet sich aber auch den Gründen, warum sich die Zufahrten zur Neat im nördlichen Nachbarland verzögern: «Deutsche zahlen den Preis für Schweizer Meisterstück», heisst es in einem Artikel über die Menschen entlang der Bahnlinien, die mehr Lärm und längere Güterzüge fürchten. Und das nicht nur auf der Linie Karlsruhe–Basel, sondern auch im Mittelrheintal, etwa um den mythischen Loreley-Felsen.
In anderen Ländern wird die Gotthard-Eröffnung nüchterner abgehandelt. Oder die Akzente werden anders gesetzt. So schreibt der britische «Guardian», der Tunnel könne «in einer Zeit des wachsenden Nationalismus und sich schliessender Grenzen» als Denkanstoss dafür dienen, «dass der Kontinent noch immer Schranken niederreissen kann, wenn er es schafft, am gleichen Strang zu ziehen». Ein Schelm, wer da an die Brexit-Abstimmung in drei Wochen denkt.
Ähnlich äussert sich das amerikanische «Wall Street Journal»: Das gewaltige Bauvorhaben im Herzen Europas könne «den Kontinent zusammenführen in einer Zeit, in der sich die öffentliche Debatte mit schärferen Grenzkontrollen und Abgrenzung befasst». Die einigende Symbolik dieses Ereignisses wirke deswegen «ein wenig unzeitgemäss», meint das Wirtschaftsblatt weiter.
Tatsächlich wirken die Elogen auf das vereinigte Europa ein wenig merkwürdig, ist doch gerade die Schweiz darauf bedacht, sich von dieser Entwicklung fernzuhalten. Dabei ist sie ein Grund dafür, warum sich der Enthusiasmus ausserhalb der Schweiz in Grenzen hält. Weil Europa zusammengewachsen ist, nicht zuletzt durch die Osterweiterung, hat der Gotthard nicht mehr die gleiche Bedeutung, die er über Jahrhunderte hinweg als Alpenübergang besass.
«War die Achse Deutschland–Italien noch vor 20 Jahren von zentraler Bedeutung, ist sie heute aus deutscher Sicht und nüchtern betrachtet ein wichtiger Nebenast», schreibt der «Tages-Anzeiger». Aus hiesiger Sicht kann man nur hoffen, dass wenigstens die erhoffte Verlagerung von der Strasse auf die Schiene eintreten wird. Sonst könnte auch bei uns die grosse Ernüchterung eintreten.