Herr Wolffers, Sie schmeissen den Bettel bei der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hin, Ihre Co-Präsidentin Therese Frösch ebenso. Als Grund für den Doppel-Rücktritt nennen Sie unter anderem die «Diskussion über weitreichende Kürzungen in der Sozialhilfe». Was genau hat das Fass für Sie zum Überlaufen gebracht?
Felix Wolffers: Wir schmeissen den Bettel nicht hin: Wir beenden unser Präsidium nächsten Mai nach fünf arbeitsintensiven Jahren. Die letzten Monate waren aber ziemlich belastend. In verschiedenen Kantonen finden heftige Angriffe auf die Sozialhilfe statt. Diese Attacken abzuwehren und der Polemik auf einer sachlichen Ebene zu begegnen, ist mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden, der für mich neben der Leitung des Sozialamts der Stadt Bern kaum mehr zu leisten ist. Belastend ist auch, dass die Gegner der Sozialhilfe kein Interesse an einer faktenbasierten Diskussion haben.
Sie spielen auf die Pläne in Bern, Baselland und Aargau an, den Grundbedarf für Sozialhilfebezüger zu senken. Vorgesehen sind Reduktionen um 8 bis 30 Prozent.
Es ist doch einfach unseriös, zu behaupten, man könne mit 30 Prozent weniger Sozialhilfe leben! Der Grundbedarf für eine Einzelperson liegt heute gemäss den SKOS-Richtlinien bei 986 Franken pro Monat, für eine vierköpfige Familie bei 2110 Franken. Fällt nun ein Drittel dieses Geldes weg, dann ist es den Betroffenen nicht mehr möglich, sich gesund zu ernähren oder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Mangelernährung, Ausgrenzung und Verelendung sind die Folgen. Konkret: Die Kürzung des Grundbedarfs um 30 Prozent bedeutet, dass in einer vierköpfigen Familie pro Person und Tag noch 5 Franken für Ernährung und Getränke zur Verfügung stehen. Das reicht doch einfach nicht.
Wen treffen die Kürzungen am härtesten?
Am weitreichendsten sind die Folgen wohl für Kinder und Jugendliche. Man vergisst gern, dass jede dritte Person in der Sozialhilfe minderjährig ist. Es ist sozialpolitisch unerträglich, wenn man den Heranwachsenden zusätzlich Steine in den Weg legt. Stellen Sie sich vor, Sie haben als einziges Kind in der Klasse kein Handy, laufen in unpassenden Kleidern herum und können mit den Freunden nicht ins Kino gehen. Da ist gesellschaftliche Ausgrenzung doch vorprogrammiert.
Den Maximalabzug von 30 Prozent sollen nur Personen zu spüren bekommen, die sich nicht um Integration oder Arbeit bemühen. Lehnen Sie solche Strafmassnahmen in jedem Fall ab?
Nein, im Einzelfall sind solche Sanktionen heute schon möglich und werden auch angewendet. Was nun etwa in Bern und Baselland geplant ist, muss aber als Kollektivstrafe bezeichnet werden: Die Beiträge sollen für alle Bedürftigen, unabhängig von ihrem Verhalten, massiv gekürzt werden. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, wo es mehr Millionäre als Sozialhilfebezüger gibt. Und dennoch sollen den sozial Schwächsten die ohnehin schon tiefen Leistungen noch bedeutend gekürzt werden. Wollen wir diese Personen wirklich in absolute Armut abdrängen und aus der Gesellschaft ausgrenzen?
Wissen Sie, wie häufig die Sanktionen heute zur Anwendung kommen?
Wir führen keine Statistik, wissen aber, dass die Gemeinden von dieser Möglichkeit bei Bedarf Gebrauch machen. Tatsache ist aber auch, dass die allermeisten Personen in der Sozialhilfe kooperativ sind.
Auch eine Arbeitsgruppe der SVP brütet derzeit über einem Reformvorschlag: Nach ihrem Willen sollen die Sozialhilfeleistungen künftig davon abhängen, wie viele Steuern eine Person bereits in der Schweiz bezahlt hat. Zugewanderte und junge Menschen hätten das Nachsehen.
Das ist eine absolut unsachliche Verknüpfung. Es ist eine grosse Errungenschaft der Schweiz, dass wir solidarisch sind: mit den Randregionen, den Bauern, den sozial Schwächsten. Gerade diese Personen sind ja oft gar nicht in der Lage, Steuern zu bezahlen. Denken Sie nur an Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende, die häufig nur wenig oder keine Steuern zahlen. Gerade sie brauchen aber Hilfe.
Die Wissenschaft gibt den Reformern teilweise recht. So plädiert der Luzerner Profossor Christoph Schaltegger dafür, Fehlanreize im System zu beseitigen und beispielsweise die Leistungen für junge Personen an strengere Bedingungen zu knüpfen.
In der Sozialhilfe beziehen junge Leute schon heute bedeutend tiefere Leistungen als andere Personen. Im übrigen steht Herr Schaltegger mit seinen Vorschlägen zum Grounding des Sozialstaats auch unter Wissenschaftlern ziemlich allein da. Tatsache ist, dass es viele Behinderte, Kranke, Betagte und Bedürftige gibt, welche nur dank Sozialleistungen ein menschenwürdiges Leben führen können.
Die Kosten für die Sozialhilfe sind in den letzten Jahren um 50 Prozent angestiegen. Verstehen Sie, dass sich in der Politik angesichts dieser Zahlen eine gewisse Unruhe breitmacht?
Die Quote der Sozialhilfebezüger liegt seit Jahren konstant bei gut 3 Prozent. Allerdings ist die Bevölkerung insgesamt gewachsen, zudem sind die Mieten und die Krankenkassenprämien massiv gestiegen. Die Sozialhilfe ist dennoch ein sehr günstiges soziales Sicherungssystem. Sie beansprucht gerade mal 1,6 Prozent der Aufwendungen für die soziale Sicherheit in der Schweiz und sichert damit die Existenz von 270‘000 Personen.
Dann sehen Sie gar kein Manko im heutigen System?
Doch, das grösste Manko besteht darin, dass wir für die Sozialhilfe keine verbindliche nationale Regelung haben. Es findet ein Wettlauf zwischen den Kantonen und den Gemeinden statt, sich mit immer noch tieferen Leistungen zu unterbieten. Und es gibt klare Tendenzen, dass Gemeinden versuchen, Bedürftige aus ihrem Gebiet fernzuhalten oder gar zu vertreiben, indem sie beispielsweise günstigen Wohnraum abreissen.
Die Obwaldner Gemeinde Kerns wollte einem Mädchen verbieten, eine weiterführende Schule zu besuchen, weil ihre Eltern von der Sozialhilfe abhängig sind. Sie solle eine Lehre machen, um schneller eigenes Geld zu verdienen. Was halten Sie von dem Entscheid?
Weil der Arbeitsmarkt nach immer mehr Fachkräften verlangt, ist eine gute Qualifikation für junge Menschen heute so wichtig wie nie zuvor. Daher ist der Entscheid für mich unverständlich. Der Fall weist aber auch auf ein anderes Problem hin: Eigentlich müsste das Stipendiensystem garantieren, dass auch Kinder aus wirtschaftlich schwachen Haushalten eine gute Ausbildung machen können. Wenn die Sozialhilfe hier in die Bresche springen muss, bedeutet dies, dass das Stipendiensystem versagt. Es ist eine Tatsache dass die Sozialhilfe heute vermehrt auch Bildungsaufwendungen übernehmen muss. Auch das führt zu Mehrkosten.
Wie lange setzten Sie sich schon mit dem Gedanken auseinander, die SKOS-Führung abzugeben?
Der Gedanke reifte im Laufe dieses Jahres in mir heran. Irgendwann hat man das Gefühl, dass die Belastung zu gross wird. Da wusste ich: Jetzt musst du handeln.
Nun sucht eine Findungskommission einen Nachfolger für Sie. Was wünschen Sie dem oder der Neuen in dieser ungemütlichen Lage?
Dass die SKOS nicht mehr so allein kämpfen muss wie bisher. Es ist sehr zu hoffen, dass sich eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung formiert, die sich gegen die Angriffe auf die Sozialhilfe zur Wehr setzt. Ich finde, dass sich auch Kirchen, Hilfswerke und weitere Organisationen vermehrt zugunsten der sozial Schwächsten engagieren müssen. Man darf das Feld nicht den Scharfmachern überlassen.