Frau Dhakyel, was ist gestern am Ankunftstag von Chinas Präsident Xi Jinping passiert?
Migmar Dhakyel: Eine Gruppe junger Tibeter demonstrierte am Nachmittag auf dem Bärenplatz in Bern gegen den Besuch des Diktators mit Bannern und «Free Tibet»-Rufen. Nach nur 25 Minuten begann die Polizei die Demonstranten einzukesseln, wegzudrängen und die Personen nach und nach zu verhaften. Sie wurden abgeführt, in einen Transporter verladen und durften den Polizeiposten erst nach drei Stunden wieder verlassen. Die jungen Leute wurden bei der Verhaftung komplett eingeschüchtert.
Die Demonstration war nicht bewilligt.
Das ist korrekt. Aber nur weil uns schon im Vorfeld der Mund verboten wurde. Die Demonstrationen wurden bloss am Vormittag bewilligt – vor Xi Jinpings Ankunft. Man wollte verhindern, dass sich Chinas Staatschef dadurch «belästigt» fühlen könnte. Alle späteren Wortäusserungen wurden teilweise brutal von der Polizei unterbunden. Ein junger Aktivist wurde von der Polizei sehr heftig zu Boden gedrückt. Die Schweiz macht sich damit zum Helfer eines menschenverachtenden Diktators.
Hier noch das ganze Video. #Tibet #XiJingping #Staatsbesuch #Bern #Demonstrationen pic.twitter.com/uv7kH3aB7g
— Philipp Mäder (@phmaeder) 15. Januar 2017
Bei den Gesprächen sollen auch Kooperationen bei den Menschenrechten sowie in Umwelt-, Klima- und Energiefragen Thema sein.
Als Schweiz-Tibeterin kann man darüber nur bitter lachen. Tibet wird von China seit sechs Jahrzehnten kolonialisiert und systematisch unterdrückt. Die offizielle Landessprache in Tibet ist chinesisch, was die Tibeter wirtschaftlich massiv diskriminiert. Ganze Züge voller Chinesen werden regelmässig nach Tibet gefahren. Sie sollen Tibet besiedeln, damit es chinesisch wird. Dafür erhalten sie wirtschaftliche Vorrechte.
Die Polizei konnte mithilfe von Tibetern am Wochenende auch eine öffentliche Selbstverbrennung verhindern.
Seit 2009 ist es in Tibet aus Protest gegen die chinesische Regierung zu 144 Selbstverbrennungen gekommen. Tibeter dürfen in ihrem eigenen Land weder einen Verein, geschweige eine politische Partei oder irgendeine Gruppierung gründen. Die meisten Tibeter besitzen auch keine Reisepässe und die Grenzen zu den Nachbarländern sind geschlossen.
Tibeter können nicht reisen?
Die Tibeter haben keine Bewegungsfreiheit in ihrem eigenen Land. Sie können nicht einmal in die Hauptstadt reisen. Wenn sie nach Lhasa wollen, brauchen sie etwa fünf Dokumente von fünf verschiedenen Ämtern, die kaum ein Tibeter erhält. Sie können sich nicht kulturell oder religiös ausdrücken und tausende politische Gefangene werden vermisst. Sänger, die Falsches singen und Blogger, die Falsches schreiben, werden verhaftet und teilweise gefoltert. Seit Xi Jinping an der Macht ist, hat sich die Situation der Tibeter noch deutlich verschlimmert. Dagegen wollten wir demonstrieren.
Finden Sie, die Schweiz dürfte Xi Jinping nicht empfangen?
Es ist ein total falsches Zeichen. Xi Jinping ist kein demokratisch gewählter Präsident, sondern ein Diktator, der nur seine eigenen Interessen und die der Kommunistischen Partei vertritt. Überall wo er zu Besuch kommt, werden Demonstrationen verboten und Leute verhaftet. Es mutet schon komisch an, wenn man unseren Bundesrat mit so einem Herrscher gemeinsam am Fondue essen sieht. Die Schweiz sollte sich schämen.
Fühlen Sie sich von der Schweiz unterdrückt?
Ich bin enttäuscht. Die Polizei und der Bundesrat hat versucht, uns zum Schweigen zu bringen. Für mich als Schweizer Bürgerin mit tibetischen Wurzeln ist das eine Schande. Eine Schande für unsere Demokratie. In den 60er Jahren hat die Schweiz als eines der ersten westlichen Länder tibetische Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt hat man uns den Rücken zugekehrt. Wir wurden öffentlich zensuriert, weil die Schweiz mit einem brutalen diktatorischen Staat Freihandel treiben will. Was ist das für ein Zeichen für unsere Demokratie?
Wie sollte man denn sonst mit China umgehen?
Es gibt andere Möglichkeiten als ein Freihandelsabkommen. Die Schweiz hätte grossen diplomatischen Spielraum. Sie könnte versuchen, die Freilassung von politischen Gefangenen zu erwirken oder gleichzeitig mit dem Besuch, öffentlich die Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren und politischen Druck auf Xi Jinping aufzubauen. Stattdessen kuscht die Schweiz komplett vor China.