Schweiz
Interview

«Sollen Medien das Bild des getöteten Bären verpixeln, Herr Martig?»

Interview

«Sollen Medien das Bild des getöteten Bären verpixeln, Herr Martig?»

12.04.2016, 11:4812.04.2016, 13:03
William Stern
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Übel zugerichtet sah er aus, der Bär, der am Samstagabend von einer Lokomotive der Rhätischen Bahn erfasst worden war. Das Tier, bei dem es sich mutmasslich um M32 handelt, hat den Zusammenstoss nicht überlebt, sein Kadaver wird momentan von Spezialisten der Universität Bern untersucht. 

Charles Martig
Charles Martig
Bild: zvg
Zur Person
Charles Martig ist Medienwissenschaftler und Direktor des Katholischen Medienzentrums in Zürich. Als Herausgeber des Internet-Portals kath.ch und als Publikumsrat der SRG Deutschschweiz setzt er sich regelmässig mit medienethischen Fragen auseinander.

Ein Bär, drei Aufnahmen: Die Online-Medien, die die Geschichte aufgriffen, sahen sich mit der Frage konfrontiert, ob sie ihrer Leserschaft das Bild zumuten können oder nicht. Einige entschieden sich dafür, das Bild gar nicht zu zeigen, andere schwächten es ab, indem sie Schädel und Torsopartie verpixelten. Dritte – auch watson – bildeten die Darstellung des Tierkadavers zumindest im Artikel selber unverändert ab.  

Aus medienethischer Sicht ist nicht klar, wie Bilder toter Tiere gehandhabt werden sollen. Im Gegensatz zum Menschen, dessen Würde gemäss Schweizer Presserat «in Text, Bild und Ton» respektiert werden soll, geniesst das Tier keine spezielle Erwähnung.

Der Medienwissenschafter und Theologe Charles Martig plädiert im Interview für eine Ausweitung der Medienethik auf Tiere und sagt, dass das Bild des getöteten Bären die Sensationsgier des Publikums bediene.

Hätte man die Aufnahme des toten Bären aus medienethischen Überlegungen unverändert abbilden sollen oder nicht?
Man muss grundsätzlich – wie bei entsprechenden Bildern von Menschen – zwischen der Informationspflicht der Medien und dem Schutz des Lesers vor Grausamkeiten abwägen. Bei Bildern spricht der Presserat vom Abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse und der «Sensibilität des Betrachters».

Was denken Sie überwiegt im vorliegenden Fall?
Ich sehe nicht, worin der Informationsmehrwert in diesem speziellen Kontext besteht. Der Bär wurde überfahren, er wurde nicht von Wilderern geschossen. Ein Mensch, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, zeigt man gemäss geltenden Richtlinien des Presserates auch nicht. Es muss die Totenruhe gewahrt werden.

Das hat seine Gründe: Der Mensch und das Tier sind zwei unterschiedliche Wesen ...
Natürlich. Dennoch ist es nichts weiter als ein Gefühl der Sensationsgier, das mit dem Bild des verstümmelten Bären bedient werden soll.

Medien
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Soll das Tier dem Menschen aus medienethischer Sicht gleichgestellt werden?
In dieser Hinsicht: Ja. Ich bin klar für eine Ausweitung im Sinne der Tierethik. Aber man muss sehen: Die Medien bewegen sich da im Gleichschritt mit anderen Bereichen. So etwa im Strafrecht – wo das Tier nach wie vor als Sache behandelt wird. Im Zivilrecht wurde das Tier allerdings seit 2003 aufgewertet. Hier gilt es nicht mehr als Sache, sondern als «Tier». Dies müsste auch medienethisch zu denken geben.

«Ein toter Alligator hätte wohl nicht das gleiche Echo ausgelöst.»

Wie sieht es bei Bildern von Massentierhaltungen aus?
Hier kann mit einem aufklärerischen Impetus argumentiert werden: Aufnahmen aus der Nahrungsmittelindustrie von misshandelten Tieren können zu einem Umdenken in der Öffentlichkeit und zu gesellschaftlichen Trendwenden führen. Es besteht also ein öffentliches Interesse!

Apropos Bilder: Was dir diese Fotos nicht zeigen

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Ein Bild lügt mehr als 1000 Worte: Was dir diese Fotos nicht zeigen
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Ist die Verpixelung des Bildes eine gangbare Alternative?
Jein. Es zeigt zwar, dass sich die Redaktion oder die Bildredaktion mit dem Thema auseinandergesetzt hat, dass eine Reflexion stattgefunden hat. Gleichzeitig hat es etwas Heuchlerisches.

Heuchlerisch?
Weil man sich so aus der ethischen Verantwortung zu stehlen versucht. Man versucht, die Grenzen auszuloten: ‹Wie weit können wir gehen, ohne dass der Vorwurf der Bedienung niederer Instinkte erhoben wird.›

Sie haben gesagt, es gehe auch darum, den Menschen vor Grausamkeiten zu schützen. Wie reagiert der Medienkonsument auf das Bild des verstümmelten Bären?
Mit einer starken Emotionalisierung. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Bär ein Teil unseres Kinderzimmers ist. Der Bär trägt als Teddy ein grosses Identifikationspotential.

Bestimmte Arten von Tieren lösen also eine stärkere Emotionalisierung aus als andere?
Ja, ein toter Alligator hätte wohl nicht das gleiche Echo ausgelöst.

Woran liegt das?
Als Menschen übertragen wir unsere Eigenschaften auf Tiere. Dieser Anthropozentrismus führt dazu, dass wir immer unsere eigenen Züge in den Tieren wahrnehmen. Deshalb sind Animationsfilme mit Tieren so beliebt. Katze, Hund, Pferd und auch der Bär sind dem Menschen nun halt einmal näher als der Alligator.

Heuchlerisch? So zeigte watson das Bild des überfahrenen Bären im Teaserbild – im Artikel selber ist das Foto unverpixelt zu sehen.
Heuchlerisch? So zeigte watson das Bild des überfahrenen Bären im Teaserbild – im Artikel selber ist das Foto unverpixelt zu sehen.Bild: amt fuer jagd und fischerei gr/watson
Bärentatze im Schnee: So bebilderte etwa die NZZ den Artikel über den im Unterengadin getöteten Bären.
Bärentatze im Schnee: So bebilderte etwa die NZZ den Artikel über den im Unterengadin getöteten Bären.Bild: AMT FUER JAGD UND FISCHEREI GR
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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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TanookiStormtrooper
12.04.2016 14:37registriert August 2015
Ich fand das Bild auch relativ unschön, denn aufgrund meines Gedächnisses wird das jetzt leider dort bleiben (war ja anfangs bei euch in der Vorschau unzensiert). Die Frage ist doch ob das Bild in diesem Fall was gebracht hat. Muss der Leser wissen, wie ein vom Zug überfahrener Bär aussieht? Ich kann verstehen, wenn man Opfer die vom Krieg gezeichnet sind zeigt und damit die perversität des Menschen offenlegt, bei einem tragischen Unfall eher nicht. Hier finde ich die Lösung der NZZ eleganter und ich bin sonst kein Fan der NZZ.
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Mäf
12.04.2016 12:59registriert Dezember 2014
Will mir nicht vorstellen was im Kopf eines Lokführers abgeht, der solche Bilder schon mal mit einem Menschen ertragen musste. Sieht er solche, doch sehr ähnliche Bilder der Überreste, kann das Probleme verursachen. Daher haben solche Bilder nichts in den Medien verloren, auch verpixelt nicht.
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