Übel zugerichtet sah er aus, der Bär, der am Samstagabend von einer Lokomotive der Rhätischen Bahn erfasst worden war. Das Tier, bei dem es sich mutmasslich um M32 handelt, hat den Zusammenstoss nicht überlebt, sein Kadaver wird momentan von Spezialisten der Universität Bern untersucht.
Ein Bär, drei Aufnahmen: Die Online-Medien, die die Geschichte aufgriffen, sahen sich mit der Frage konfrontiert, ob sie ihrer Leserschaft das Bild zumuten können oder nicht. Einige entschieden sich dafür, das Bild gar nicht zu zeigen, andere schwächten es ab, indem sie Schädel und Torsopartie verpixelten. Dritte – auch watson – bildeten die Darstellung des Tierkadavers zumindest im Artikel selber unverändert ab.
Aus medienethischer Sicht ist nicht klar, wie Bilder toter Tiere gehandhabt werden sollen. Im Gegensatz zum Menschen, dessen Würde gemäss Schweizer Presserat «in Text, Bild und Ton» respektiert werden soll, geniesst das Tier keine spezielle Erwähnung.
Der Medienwissenschafter und Theologe Charles Martig plädiert im Interview für eine Ausweitung der Medienethik auf Tiere und sagt, dass das Bild des getöteten Bären die Sensationsgier des Publikums bediene.
Hätte man die Aufnahme des toten Bären aus medienethischen Überlegungen unverändert abbilden sollen oder nicht?
Man muss grundsätzlich – wie bei entsprechenden Bildern von Menschen – zwischen der Informationspflicht der Medien und dem Schutz des Lesers vor Grausamkeiten abwägen. Bei Bildern spricht der Presserat vom Abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse und der «Sensibilität des Betrachters».
Was denken Sie überwiegt im vorliegenden Fall?
Ich sehe nicht, worin der Informationsmehrwert in diesem speziellen Kontext besteht. Der Bär wurde überfahren, er wurde nicht von Wilderern geschossen. Ein Mensch, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, zeigt man gemäss geltenden Richtlinien des Presserates auch nicht. Es muss die Totenruhe gewahrt werden.
Das hat seine Gründe: Der Mensch und das Tier sind zwei unterschiedliche Wesen ...
Natürlich. Dennoch ist es nichts weiter als ein Gefühl der Sensationsgier, das mit dem Bild des verstümmelten Bären bedient werden soll.
Soll das Tier dem Menschen aus medienethischer Sicht gleichgestellt werden?
In dieser Hinsicht: Ja. Ich bin klar für eine Ausweitung im Sinne der Tierethik. Aber man muss sehen: Die Medien bewegen sich da im Gleichschritt mit anderen Bereichen. So etwa im Strafrecht – wo das Tier nach wie vor als Sache behandelt wird. Im Zivilrecht wurde das Tier allerdings seit 2003 aufgewertet. Hier gilt es nicht mehr als Sache, sondern als «Tier». Dies müsste auch medienethisch zu denken geben.
Wie sieht es bei Bildern von Massentierhaltungen aus?
Hier kann mit einem aufklärerischen Impetus argumentiert werden: Aufnahmen aus der Nahrungsmittelindustrie von misshandelten Tieren können zu einem Umdenken in der Öffentlichkeit und zu gesellschaftlichen Trendwenden führen. Es besteht also ein öffentliches Interesse!
Ist die Verpixelung des Bildes eine gangbare Alternative?
Jein. Es zeigt zwar, dass sich die Redaktion oder die Bildredaktion mit dem Thema auseinandergesetzt hat, dass eine Reflexion stattgefunden hat. Gleichzeitig hat es etwas Heuchlerisches.
Heuchlerisch?
Weil man sich so aus der ethischen Verantwortung zu stehlen versucht. Man versucht, die Grenzen auszuloten: ‹Wie weit können wir gehen, ohne dass der Vorwurf der Bedienung niederer Instinkte erhoben wird.›
Sie haben gesagt, es gehe auch darum, den Menschen vor Grausamkeiten zu schützen. Wie reagiert der Medienkonsument auf das Bild des verstümmelten Bären?
Mit einer starken Emotionalisierung. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Bär ein Teil unseres Kinderzimmers ist. Der Bär trägt als Teddy ein grosses Identifikationspotential.
Bestimmte Arten von Tieren lösen also eine stärkere Emotionalisierung aus als andere?
Ja, ein toter Alligator hätte wohl nicht das gleiche Echo ausgelöst.
Woran liegt das?
Als Menschen übertragen wir unsere Eigenschaften auf Tiere. Dieser Anthropozentrismus führt dazu, dass wir immer unsere eigenen Züge in den Tieren wahrnehmen. Deshalb sind Animationsfilme mit Tieren so beliebt. Katze, Hund, Pferd und auch der Bär sind dem Menschen nun halt einmal näher als der Alligator.