Herr Balsiger, die Delegierten der SVP haben entschieden: Sie wollen die Personenfreizügigkeit mit der EU per Initiative kündigen. Hat diese Anliegen eine Chance?
Mark Balsiger: Es wäre fahrlässig, wenn der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments diese Initiative nicht ernst nehmen würden. Bis darüber abgestimmt wird, dürfte es noch etwa vier Jahre dauern. Je nachdem, welche politische Stimmung dann herrscht, ist das Rennen offen.
Die SVP hat bei der Durchsetzungsinitiative, der Unternehmenssteuerreform III und der Energiestrategie in letzter Zeit an der Urne einige schmerzhafte Niederlagen kassiert. Hofft sie, mit der Kündigungsinitiative auf die Siegerstrasse zurückzukehren?
Die SVP hat jahrelang darauf hingearbeitet, aus dem vorhandenen Unmut der Bevölkerung über die anhaltend hohe Zuwanderung politisches Kapital zu schlagen. Man darf nicht vergessen: Aus dem ganzen Arsenal der SVP-Initiativen seit den frühen 90er-Jahren waren nur die Ausschaffungs- und die Masseneinwanderungsinitiative erfolgreich.* Die SVP will die Abstimmung über die Kündigungsinitiative wie schon bei der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) gar nicht unbedingt gewinnen. Sie will sich in erster Linie in ihrem bevorzugten Setting «Die SVP gegen den Rest der Welt» inszenieren.
Braucht nicht wenigstens SVP-Präsident Albert Rösti endlich mal einen Abstimmungserfolg? Seit er am Ruder ist, lässt die Bilanz der Partei an der Urne zu wünschen übrig.
Nein, Parteipräsidenten werden in der Öffentlichkeit nicht gross an Abstimmungsergebnissen gemessen, viel stärker am Abschneiden ihrer Partei bei den eidgenössischen Wahlen. Diese sind messbar – im Gegensatz zu anderen Aufgaben von Parteipräsidenten, wie etwa der parteiinternen Talentförderung oder der Mehrheitssicherung für Schlüsselgeschäfte im Parlament.
Seit der Annahme der MEI am 9. Februar 2014 streitet die Schweiz über die Personenfreizügigkeit. Warum lanciert die SVP erst jetzt eine Initiative für deren Kündigung?
Das hat verschiedene Gründe. Die SVP hat grösstes Interesse, dass das Thema Zuwanderung weiterhin am Köcheln ist. Ihre ganze Kampagnenstrategie seit Annahme der MEI zielte darauf ab. Beispielsweise protestierte sie gegen deren Umsetzung durch Bundesrat und Parlament, verzichtete aber gleichzeitig auf ein Referendum dagegen. Jetzt, wo die Umsetzung in trockenen Tüchern ist, hilft die Kündigungsinitiative der SVP, ihr wichtigstes Thema weiterhin zu bewirtschaften.
Konnte die SVP den Zeitpunkt selber wählen oder haben sie die Umstände dazu gezwungen, jetzt vorwärts zu machen?
Einerseits musste die SVP darauf reagieren, dass die Aktion für eine unabhängige Schweiz (AUNS) im Dezember 2016 vorgeprescht war und eine Initiative zur Beschränkung der Zuwanderung ankündigte. Die SVP-Rennleitung schickte Ex-Fraktionschef Caspar Baader als Vermittler und konnte die AUNS von einem Alleingang abhalten. Hätte die SVP auf eine erneute Initiative zum Thema verzichtet, hätte ihr die AUNS die Schlacht gestohlen.
Und andererseits?
Die angekündigte Initiative dient der SVP natürlich als Wahlkampfinstrument. Der Schlussspurt bei der Unterschriftensammlung dürfte ins Wahljahr 2019 fallen. Das hilft im Wahlkampf, Parteimitglieder zu mobilisieren und zusätzliche Medienaufmerksamkeit zu erhalten.
Noch ist unklar, wie die Initiative im Detail aussehen wird. Wird der Text klipp und klar das Aus für die Personenfreizügigkeit fordern?
Es zeichnet sich ab, dass es zu einer «MEI II» kommen wird: Die Initiative wird das Stimmvolk im Unklaren darüber lassen, was bei einer Annahme mit den bilateralen Verträgen passiert. Der Initiativtext wird gegen diverse Artikel der Bundesverfassung verstossen und übergeordnetes Recht verletzen. Die SVP wird eine listige Formulierung finden, über deren Umsetzung sich wiederum jahrelang streiten lässt.
Was halten die Unternehmer in der SVP von dieser Initiative? Eine Kündigung der Personenfreizügigkeit ist aus Sicht eines Grossteils der Wirtschaft schädlich.
Der Wirtschaftsflügel wird diese neue Volksinitiative nicht gutheissen. Der Spagat der Partei wird damit noch offensichtlicher als bei früheren Vorlagen. Auch bei den Bauern dürfte es Widerspruch geben: Die Erntehelfer kommen mehrheitlich aus Polen.
Die Operation Libero hat die SVP mehrfach dazu aufgefordert, endlich eine «ehrliche» Initiative einzureichen, bei der klar wird, dass eine Kündigung der Personenfreizügigkeit das Ende der Bilateralen Verträge bedeuten würde. Ist das die richtige Taktik der SVP-Gegner: Das Heraufbeschwören einer europapolitischen Endschlacht?
Die Operation Libero hat geschickt die Gunst der Stunde genutzt, als SVP und AUNS über den Initiativtext brüteten. Für einen politischen Akteur ist es immer gut, selbstbewusst und ohne Angst vor einer Abstimmung aufzutreten. Insgesamt müssen die Gegner der Kündigungsinitiative die Vorteile der Personenfreizügigkeit sowohl mithilfe von Zahlen als auch mit einzelnen Beispielen aufzeigen. Dabei dürfen sie aber nicht deren negativen Aspekte verschweigen. Wichtig ist, unterschiedliche Zielgruppen mit verschiedenen Argumenten anzusprechen. Das simple Zuplakatieren der Schweiz mit dem bekannten Apfelbaum-Sujet der Economiesuisse reicht nicht mehr, um die SVP zu besiegen. Das hat die MEI gezeigt.
* Update 27.6.2017: In einer früheren Version des Artikels hiess es: «Aus dem ganzen Arsenal der SVP-Initiativen seit den frühen 90er-Jahren waren nur die Durchsetzungs- und Masseneinwanderungsinitiative erfolgreich.» Richtig muss es heissen: «Ausschaffungs- und Masseneinwanderungsinitiative». Der Fehler liegt beim Autor, nicht bei Mark Balsiger.