Es läuft immer ähnlich ab. Am Anfang steht ein Skandal. So wie jetzt derjenige um Harvey Weinstein. Dem US-Filmproduzenten wird vorgeworfen, über Jahrzehnte Frauen sexuell belästigt zu haben. Anklage erheben unter anderem die Schauspielerinnen Léa Seydoux, Gwyneth Paltrow, Asia Argento, Angelina Jolie und das Topmodel Cara Delevingne.
Auf den Skandal folgt die Empörung. Erbarmungslos wird Weinstein daraufhin von Journalisten niedergeschrieben und von den Paparazzi unter Blitzlichtgewitter bis in die Sex-Entzugsklinik verfolgt. Seine Ehefrau Georgina Chapman verlässt ihn und sein Filmstudio The Weinstein Company stellt ihn auf die Strasse.
Dann kommt die Welle der Solidarisierung mit den Opfern. Die Schauspielerin Alyssa Milano lanciert eine Diskussion über sexuelle Belästigung. Auf Twitter fordert sie all jene, die schon einmal Opfer von sexueller Belästigung geworden sind, dazu auf, unter dem Hashtag #Metoo ihre Erfahrungen zu teilen.
Die Reaktionen sind gewaltig. Innerhalb von drei Tagen werden 1,2 Millionen Tweets unter dieser Verschlagwortung abgesetzt. Frauen berichten von Busengrapschern im Ausgang, davon, wie sie mit K.-o.-Tropfen betäubt wurden, von fremden Männern, die ihnen zwischen die Beine gefasst haben oder von noch Schlimmerem.
Die Debatte ist angestossen. Jetzt wollen alle mitreden. Eine Diskussion über Sexismus und über sexuelle Belästigung entbrennt. So weit, so gut. Denn diese ist auch bitter nötig, solange wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen wie Weinstein noch immer jahrzehntelang frivol Frauen belästigen.
Der nächste Schritt wäre, aus dem Vorfall Lehren zu ziehen. Die Themen Sexismus, sexuelle Belästigung und Missbrauch mit einer Ernsthaftigkeit zu behandeln, so wie sie es tatsächlich verdient hätten. Opferhilfe zu institutionalisieren, die Gesellschaft mit Kampagnen zu sensibilisieren, Gesetze dort zu verschärfen, wo sie heute noch zu wenig greifen. Alles daran zu setzen, dass verhindert wird, dass Frauen weiterhin weltweit missbraucht, gedemütigt, unterdrückt, diskriminiert und ausgebeutet werden.
Doch dem ist nicht so. An diesem Punkt schlägt jeweils die Stimmung um.
Auf die Solidarisierung folgt die Entsolidarisierung. Männer melden sich zu Wort, die den Vorfall verharmlosen. Sie erzählen, dass ihnen auch schon mal in einer Bar an den Po gefasst wurde und sie das aber als Bestätigung aufgenommen hätten. Sie beklagen sich, inzwischen gelte schon jedes Kompliment als sexuelle Belästigung, jedes Nachpfeifen aus Jux als übergriffig und das Flirten im Club als aufdringlich.
Es kommt zur Verballhornung der Sexismus-Debatte. Wo beginnt Sexismus? Wo der sexuelle Übergriff? Verunsicherte Männer schreiben über ihre Unsicherheit. Sie fragen sich, was darf man(n) noch? Frauen schreiben über verunsicherte Männer, die zunehmend verweichlichen. Alles gerate durcheinander, heisst es. Alle seien verwirrt. Die Menschheit stehe am Abgrund.
Dabei wäre es doch so einfach. All die Verunsicherung müsste nicht sein, die Lösung läge so nahe: Benutzt euer Hirn! Tut ihr das, merkt ihr in den meisten Fällen, ob die Frau geküsst werden will oder nicht. Ihr merkt, ob sie zu betrunken für Sex ist. Auch, ob sie an der Bar zurückflirtet oder euch den Mittelfinger zustreckt. Und falls ihr trotz Benutzung eures Hirns noch immer unsicher seid, ob die Frau auch wirklich gut findet, was ihr gerade mit ihr macht, fragt doch zur Sicherheit nach. Kann nicht schaden.
Es ist frustrierend. Eigentlich könnte man annehmen, dass wir inzwischen darin geübt sein müssten, Sexismus-Debatten reflektierter zu führen. Schliesslich lancierte die deutsche Bloggerin und Feministin Anne Wizorek schon 2013 das Hashtag #Aufschrei. In den USA twitterten ein Jahr später Tausende unter #YesAllWomen. Während Donald Trumps Präsidentschaftskandidatur gingen die Hashtags #ThePussyGrabsBack und #NotOkay viral und vor einem Jahr kam die Sexismus-Debatte auch unter #SchweizerAufschrei bei uns an.
Doch auch dort war das Schema dasselbe: Skandal, Empörung, Solidarisierung, Debatte, Entsolidarisierung. Was erfahrungsgemäss nach solchen Diskussionen zurückbleibt, ist gähnende Leere. Schlimmstenfalls werden wir noch mit einem Artikel der «Weltwoche» beglückt, in dem ein alternder Journalist über die «Bekenntnisse eines Unanständigen» berichtet. Schade.
Was also lernen wir dieses Mal aus der Sexismus-Debatte? Nichts. Das nervt.