26.01.2017, 10:4726.01.2017, 11:05
Einer der traurigsten Augenblicke meines Lebens war der Moment,
als der knallrote Peugeot meiner Mutter eines Tages nicht mehr in der Einfahrt
stand. Alt und nicht mehr brauchbar sei er, hat sie mir damals erzählt – und
obwohl ich es verstand, weinte das Herz trotzdem der geliebten Blechkiste
hinterher.
Es war nicht bloss ein Auto. Es war das Auto, das uns einst den ganzen Weg von Litauen in die Schweiz begleitet hatte: ein One-Way-Ticket – ohne
Weg zurück.
Über 16 Jahre in der Schweiz hinterlassen Spuren. Schöne Spuren. Man
gewöhnt sich an die Tatsache, dass der Hausschlüssel bedenkenlos im Briefkasten
aufbewahrt wird, an den Schwimmunterricht und das im Auge meiner Grossmutter
naive Sicherheitsgefühl, wenn man nachts als Frau angstfrei alleine unterwegs
ist. Die Schweiz ist mein Zuhause.
An eine Sache werde ich mich jedoch
nie gewöhnen:
Ich so:
«Sag mal, was hörst du eigentlich so für Musik?»
Die Schweizer so:
«So ziemlich alles – ausser Schlager und Volksmusik.»
Hä? Warum denn nicht?
Die Schweizer Folklore polarisiert: zwischen der liberalen
Moderne und dem konservativen Brauchtum, dem weltoffenen Menschen und
dem spiessigen traditionsorientierten Bünzlischwizer, links und
rechts, Stadt und Land.

Symbolbild: die Kluft zwischen Stadt und Land.
Litauen, als das letzte vom Heidentum zum Christentum
bekehrte Land Europas, stellt unter Beweis, dass es auch anders geht – dass Folklore
und Moderne sich nicht gegenseitig ausschliessen müssen. Woher kommt das?
Der Kampf um den Erhalt der eigenen Kultur war für Litauen schon seit über 1000 Jahren ein Thema, das leider immer wieder aktuell wurde: Während am Ende des 14. Jahrhunderts die Landesgrenzen
des damaligen Grossfürstentums sogar bis ans Schwarze Meer reichten, wurden im
19. Jahrhundert unter der Herrschaft des Russischen Kaiserreichs die Litauische Kultur und Sprache gänzlich unterdrückt und verboten.

Da hat man Litauen auf der Karte noch nicht übersehen.bild: wikimedia Verloren und vergessen ging sie trotzdem nicht: Litauisch gilt nach wie vor als älteste Sprache Europas – denn hinter geschlossenen Vorhängen wurde die eigene Kultur selbst unter der grausamsten Besatzungsmacht weiterhin klammheimlich weitergelebt.
Und dieser Mut hat sich ausgezahlt: Naturverbundenheit, traditionelle Landwirtschaft, Volkslieder und Volkstänze, alte Bräuche und Aberglaube sind bis heute in der Gesellschaft stark verwurzelt. Während das Land an Infrastruktur, Technik und
Modernität locker mit dem Rest Europas mithalten kann, mischen die an jeder Schule
vorhandenen Volksmusikgruppen mit wöchentlichen traditionellen Tanzfesten und ähnlichen Veranstaltungen für die Jugend den modernen Alltag auf.

Vilnius – die Hauptstadt von Litauen.
Es
gibt Sommercamps, wo das Leben in freier Natur gelehrt wird, Tänze, um Regen zu
beschwören und Volkslieder, die am Lagerfeuer gesungen werden. Die landesweite
Organisation «Romuva», die sich den alten heidnisch-litauischen Bräuchen verschrieben
hat, gewinnt immer mehr an Zuwachs. Das zeigt sich auch in der litauischen Politik: Die vorherrschende grüne Bauernpartei setzt sich besonders stark für Kultur und die Wiederbelebung von alten Traditionen ein.
Ich bin damit aufgewachsen. Mit langen Abenden am Lagerfeuer
und Volksliedern, der Suche nach der Blüte einer Wurmfarne, die der Legende
nach nur in der Nacht der Sommersonnenwende blüht und ewige Weisheit verleihen
soll (ich habe sie leider noch nicht gefunden), Tänzen und den alten Geschichten meines Grossvaters über Geister und andere
Besonderheiten der Natur.

Ebenfalls ein Brauch: traditionelles Abendessen am Heiligabend.
Ich war schon immer ein Stadtkind. Aber die litauische Kultur
hat mich gelehrt, auf die Natur zu hören. Das kommende Wetter von den Wolken
ablesen zu können. In den Wald gehen und mit einem Korb voller Pilze und Beeren
zurückzukommen. Jedes Frühjahr mit Vorfreude auf das erste Donnerwetter zu
warten – weil man munkelt, dass sich erst nach dem ersten Donnerschlag die Erde
vollständig erwärmt und ohne Rückschläge bereit für den Frühling ist. Und Polka
zu tanzen. Ist doch klar.

Hui! Natur!
Litauen lehrte mich, dass Folklore nichts ist, was sich in ländlichen Gegenden oder im
konservativen Umfeld von Spiessbürgertum verstecken muss. Im Gegenteil: Tradition
und Brauchtum sind – unabhängig von Konfession und politischer Ausrichtung – ein
Teil der einzigartigen und individuellen Geschichte und Kultur eines jeden
Landes und können uns unendlich viel über das Leben und uns selbst beibringen.

Hier kann man toll Urlaub machen.
Auch das Schweizer Repertoire an Bräuchen und Tradition muss vor der Macht des Stadtmenschen und der urbanen Kultur nicht kuschen: Mut zur Veränderung, Modernität und Tradition lassen sich vereinen.
So würde ich – aufgewachsen zwischen Regentanz, Heidi und Zürich – auf die Frage nach meinem Musikgeschmack antworten:
Die Schweizer so:
«Sag mal, was hörst du eigentlich so für Musik?»
Ich so:
«So ziemlich alles – inklusive Schlager und Volksmusik!»
Und ihr so?
Erstaunliche Fakten über die Schweiz, die du kennen solltest
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Erstaunliche Fakten über die Schweiz, die du kennen solltest
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