Martin Wagner war der wohl einflussreichste Schweizer Medienanwalt seiner Zeit. Am 28. Januar 2018, es war frühmorgens an einem Sonntag, wurde Wagner in seinem Haus in Rünenberg ermordet. Ein 39-jähriger Mann aus der Nachbarschaft streckte den damals 57-Jährigen mit mehreren Schüssen nieder und richtete sich danach selbst.
Der heute 23-Jährige Sohn Wagners, Julien, war zuhause in Rünenberg im oberen Stock, als er plötzlich unten Schüsse, klirrende Scheiben und Schreie hörte. Er setzte seine Pistole zusammen, ging nach unten und stand seinem Nachbarn gegenüber, der soeben seinen Vater erschossen hatte. Im Gespräch mit der «Schweiz am Wochenende» spricht Wagner erstmals öffentlich über die Szene, die sein Leben verändert hat.
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Er sei kein ganz anderer Mensch als vor einem Jahr, aber der gleiche sei er auch nicht mehr. Das sagt Julien Wagner (23) von sich. Er ist der Sohn des bekannten Anwalts Martin Wagner, der vor einem Jahr am 28. Januar 2018 in seinem Haus in Rünenberg von einem Nachbarn erschossen wurde. Julien Wagner erinnert sich nicht mehr an alle Details jenes verhängnisvollen Sonntagmorgens: «Das war extrem intensiv. Aus Selbstschutzmechanismen beginnt man schnell, auszublenden und zu vergessen. Einige Bilder bleiben einem aber für immer, besonders eine Szene habe ich noch genau vor Augen.»
Das war jene, als er von Angesicht zu Angesicht dem Täter gegenüberstand. Wagner erzählt: «Wir drei Kinder waren im oberen Stock, als wir von unten Schüsse, klirrende Scheiben und Schreie hörten. Ich sagte meinem Bruder, dass er mit unserer kleinen Schwester sofort über einen Hinterausgang verschwinden soll. Ich setzte meine Pistole zusammen, lud sie und rannte nach unten. Dort lag mein Vater in seinem Blut am Boden.» Und dann kam diese Szene: «Ein Nachbar stand mit einer Pistole in der Hand an der Türe. Wir blickten uns einen Augenblick an, der wie eine Ewigkeit dauerte. Das werde ich nie vergessen. Sein Ausdruck war eine Mischung aus Wut, Angst und irgendwie auch Leere. Ich hatte Angst, wusste nicht was machen, mit 22 willst Du niemanden erschiessen. Dann richtete sich der Nachbar die Pistole an den Kopf und drückte ab.» Sein Vater sei nicht mehr ansprechbar gewesen, habe noch ein paar Minuten reflexartig geatmet und sei gestorben. Wagner erzählt das alles sehr gefasst. Darauf angesprochen, meint er: «Das ist immer noch so unwirklich. Es kommt mir vor, wie wenn ich einen Film zusammenfasse.»
Was nach der Tat folgte, beurteilt Wagner in der Rückblende sehr kritisch. Die drei Geschwister seien von der Polizei in ein Nachbarhaus gebracht und über Stunden einvernommen worden. Selbst seine damals neunjährige Schwester Sedona habe eineinhalb Stunden Red und Antwort stehen müssen, obwohl sie nur noch ein Häufchen Elend gewesen sei. Auch das Care Team sei keine Hilfe gewesen: «Was will man in so einem Moment mit Sätzen wie ‹Sie fühlen sich jetzt wie eine Waschmaschine voller Emotionen› anfangen? Man ist zwei Stunden nach einem solchen Ereignis nicht empfänglich und baut eine Wand um sich.» Allenfalls hätte ihnen jemand helfen können, der Ähnliches erlebt habe. Vor allem hätten sie das Bedürfnis nach Kontakt zu Familienmitgliedern gehabt, aber die Polizei habe sie abgeschirmt.
Auch mit gewissen Medien geht er kritisch ins Gericht: «Was soll das, irgendwelche Nachbarn über uns zu befragen und das Gesagte ungefiltert zu übernehmen. 90 Prozent von dem, was über unsere Familie in den Zeitungen stand, war Bullshit, insbesondere, dass es sich um ein Beziehungsdelikt gehandelt haben soll. Die Berichterstattung des ‹Blick› spricht nicht für einen seriösen Journalismus und eine hohe Ethik.»
Und er, hatte er nach dem Drama, das weit über Rünenberg hinaus erschütterte, nie einen Zusammenbruch? «Das wäre Luxus gewesen. Ich musste mich vor allem um meine Schwester kümmern.» Das hatte Martin Wagner nicht ganz ohne Grund testamentarisch so vorgesehen. Denn im Herbst 2017 war bereits seine Frau an einem Hirntumor gestorben, womit Julien, sein zwei Jahre jüngerer Bruder Dennis und Sedona bereits Halbwaisen waren. Zu dem so unterschiedlichen Ableben seiner Eltern innerhalb kürzester Zeit sagt Julien Wagner: «Unsere Mutter erhielt ihre Diagnose zwei Jahre vor ihrem Tod. Wir konnten mit ihr darüber reden und langsam Abschied nehmen. Wer schon einmal Krebskranke sterben sah, weiss, dass der Tod eine Erlösung ist und somit auch einen positiven Aspekt hat. Der Tod unseres Vaters aber kam völlig unvermittelt und war so sinnlos. Ich stelle mir das als etwas vom Schlimmsten vor, erschossen zu werden.»
Wagner hat denn auch null Verständnis für die Schweizer Waffengesetzgebung, bei der es so einfach sei, an Munition heranzukommen und in unzähligen Haushalten Armeewaffen lagerten; Martin Wagners Mörder schoss mit einer Armeepistole. Immer wieder werde in der Schweiz auf die Sportschützen verwiesen. Aber Schusswaffen würden letztlich nicht für den Sport, sondern zum Töten hergestellt, betont Wagner. Er selbst zog die Konsequenzen und gab seine Armeewaffe ab; die Pistole ist er derzeit am Verkaufen. Dies auch aus der Erkenntnis, dass Waffen im Notfall nicht helfen können.
Heute leben die Wagner-Geschwister in einem Haus in Binningen. Nach Rünenberg wollen sie nicht mehr zurück. Julien Wagner schildert einen normalen Tagesablauf so: «Wir frühstücken zusammen, ich bringe meine Schwester in die Schule nach Basel und mein Bruder geht an die Uni. Danach gehe ich ebenfalls dorthin. Um 16 Uhr holt eine Bekannte, die schon in Rünenberg half, Sedona von der Schule ab und geht mit ihr nach Hause. Ich kaufe auf dem Heimweg das Nachtessen ein und wir essen zusammen. Danach machen ich oder mein Bruder mit Sedona Hausaufgaben. Um 21 Uhr geht sie ins Bett und ich widme mich meinen Sachen.»
Der Mord an ihrem Vater habe sie noch mehr zusammengeschweisst, sagt Wagner. Seit der Tat stünden sie alle in psychologischer Behandlung. Es gehe allen Dreien den Umständen entsprechend gut und sie blickten wieder optimistischer in die Zukunft. Im Alltag helfe ihnen viel schwarzer Humor über die Runden. Wie muss man sich das vorstellen? Wagner macht ein Beispiel: «Wir sind am Kochen und merken, dass uns etwas fehlt. Ich hole es und wir sagen: ‹Jetzt haben wir alles. Es fehlen nur noch die Eltern.›»
Bei allen Veränderungen fährt Julien Wagner weiter auf seinen beiden beruflichen Schienen. Da ist zum einen das Rechtsstudium, mit dem Ziel Master. In die Anwalts-Fusstapfen seines Vaters will er aber nicht treten, auch wenn er diesem rhetorisch kaum nachsteht. Er meint: «Ja, ich habe gewisse Talente von ihm übernommen. Aber ich sehe mich eher in der Filmbranche als in der Juristerei.» Dort würden ihm seine rhetorischen Fähigkeiten beim Schreiben von Drehbüchern sehr helfen. Und auch die vom Vater geerbte Fähigkeit, sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen zu lassen, helfe ihm, da auf den Filmsets vieles schief laufe.
Womit wir endgültig bei Wagners zweiter beruflicher Schiene sind: Sein Faible für die Theater- und Filmwelt zeigte sich schon früh, als er immer wieder auf einer Bühne oder vor einer Kamera stand. Endgültig den Ärmel reingezogen hat es ihm als 17-jähriger Gymnasiast, als er ein Auslandjahr in Los Angeles einlegte. Dort besuchte er die Lee-Strassberg-Filmschule, an der sich schon Stars wie Barbra Streisand die Sporen abverdienten. Er sei dank den Beziehungen eines Lehrers in grosse Filmsets hineingerutscht, wo er – als Gehilfe – viel gelernt habe. Nach der Matur öffnete ihm das Beziehungsnetz seines Vaters neue Türen und er konnte bei einem engen Freund anheuern, bei Bernhard Burgener und dessen «Constantin-Film» in München.
Als seine Mutter die Krebsdiagnose erhielt, kehrte er in die Region zurück und begann zu studieren. Daneben schrieb er weiterhin Drehbücher, so etwa jenes des Kurzfilms «Weekend Tide», der letztes Jahr Premiere feierte. Wie geht das alles zusammen? Wagner: «Das Studium schaffe ich dank meinem grossen Freundeskreis, der mich unter anderem mit Unterlagen von Vorlesungen versorgt, die ich nicht besucht habe. Und Sedona nehme ich wenn immer möglich mit zu den Dreharbeiten. Das gefällt ihr sehr, denn sie will Schauspielerin werden.»
Dieses Switchen zwischen Uni und Filmset ist das Leben, das Julien Wagner schon vor dem 28. Januar 2018 gelebt hat. Schon damals sei es nicht einfach gewesen, weil sein Vater viel gearbeitet habe und seine Mutter krank gewesen sei und er zu Hause Aufgaben übernommen habe. Jetzt sei es einfach noch eine Spur komplizierter. Und inwiefern hat er sich verändert? «Ich habe ein anderes Bewusstsein, was relevant ist im Leben. So schätze ich Leute, die mir wichtig sind, viel bewusster, gleichzeitig bin ich nicht mehr so empfänglich für neue Kontakte. Und für Diskussionen in der Art, dass im Coop schon wieder die Avocados fehlen, bin ich nicht mehr zu haben.» (bzbasel.ch)