Und plötzlich war klar: Es herrschte Krieg. Ich spürte ein Hochgefühl, wie zuletzt bei der Liveübertragung der Schachweltmeisterschaft – eine fiebrige Erwartung, dass die Welt von einer Sekunde auf die andere aus den Angeln gehoben werden kann.
Noch blieben die Kampfhandlungen aus, aber die Botschaft war unmissverständlich. Da war einer zu weit gegangen.
Viel zu weit.
Sabotage.
In unserer Waschküche.
Was war passiert?
Eine unbekannte Person hatte sich vor zwei Wochen erdreistet, in unserer Waschküche den Monatsplan März zu entfernen. Stundenlange, mühselige Kleinarbeit innert Sekunden der Zerstörungswut eines kaltblütigen Killers zum Opfer gefallen. Seither hängt der Haussegen schief.
Ich hatte bislang ein eher unverkrampftes Verhältnis zu Waschküchen. Keine Gerichtsfälle, keine Friedensrichter-Vorladungen. Jahrelang musste ich mich begnügen mit gestohlenen Socken und vorwurfsvoll auf den Tumbler gehäuften Kleiderbergen. Lächerliche Vorkommnisse, die nicht einmal den Grad eines Kleinkriegs erreichten. Die sagenumwobene Kleingeistigkeit der Schweizer Waschküchen kannte ich primär aus Erzählungen von Gastarbeitern.
Wenn in der Runde Anekdoten ausgetauscht wurden, richtete ich den Blick schuldbewusst auf meine frisch gewaschenen weissen Socken: Inmitten dieser Veteranen des Waschküchen-Händels war ich Wehrdienstverweigerer und Kriegsgewinnler. Ein verkommenes Subjekt, Personifizierung des um sich greifenden Duckmäusertums, eine nasse Hose inmitten eines Rudels gestärkter Hemden.
Und jetzt war ich plötzlich mittendrin, unfreiwillig. Nachdem «eine unverschämte, egoistische Person» den Märzplan niederträchtig «sabotiert» hatte, formierte sich Widerstand im Mehrfamilienhaus. Eine Art Kriegserklärung hing da, unmissverständlich und in hibbeliger Comic-Sans-Typografie gehalten. Ein Meisterwerk der unverblümten Entenhausen-Diplomatie. Der Geniestreich eines schlachterprobten Strategen, ein Borderline-General, ein Röschibach-Rommel, seine Panzer die schwungvollen Grossbuchstaben, die jegliche Verhältnismässigkeit zu Brei walzen.
Unser Schicksal ist kein Einzelfall. Millionen von rechtschaffenen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land fechten tagtäglich den gleichen Kampf aus. Eine Umfrage von Homegate ergab 2015, dass sich 79 Prozent der Befragten mehrmals pro Jahr über die Waschküche nervt. Jeder vierte ärgert sich sogar wöchentlich. Es sind Zahlen des Grauens, die sich da manifestieren.
Immerhin ist für eine gewisse Nivellierung gesorgt. Die Waschküche ignoriert Stand, Vermögen und Bildungshintergrund. Sie macht alles gleich, ungeachtet von Farbe und Stoffbeschaffenheit.
Hugo Loetscher hat den Waschküchenschlüssel einst als integrierender Bestandteil der Demokratie beschrieben. Aber Loetscher lebte auch in einer Zeit, als «der Waschtag einen hohen Stellenwert im Ritualleben der schweizerischen Hausfrau» einnahm. In unserem Mehrfamilienhaus fände Loetschter eine Nation im Zerfall vor – Dutzende verfeindete Fraktionen, eine schwache Zentralregierung, eine sich anbahnende Anarchie. Zudem haben wir keinen Waschküchenschlüssel, sondern einen Münzzähler, womit wir auch noch in den Ruch des Nepotismus geraten.
Ein paar Tage später versuchte unsere Verwaltung etwas unbeholfen Frieden zu stiften. Diverse Mieter hätten sich beschwert, hiess es in dem an alle Bewohner adressierten Brief, dass jemand den Waschplan des Monats März «eliminiert» habe. Osama Bin Laden wurde 2010 von einem Navy-Seal-Team «eliminiert», der «Guardian» «eliminierte» 2013 Daten des NSA-Whistleblowers Edward Snowden, indem er Festplatten und ein MacBook schredderte. Und nun, im März 2019, wurde in der Sprachregelung unserer Verwaltung auch ein unschuldiger Wipkinger Waschplan «eliminiert».
Dann wies sie darauf hin, dass Selbstjustiz nicht toleriert werden könne:
Mit der in martialischem Ton verfassten Protestnote verspielte sich die Verwaltung den kläglichen Rest an Sympathie, der ihr noch blieb.
In der konspirativen Behaglichkeit des Trocknungsraums verriet mir Barbara später, dass es im Mietervolk brodle. Barbara ist meine Informantin, sie wohnt in der anderen Haushälfte und sperrt die Augen weit auf, wenn sie spricht. Vor kurzem sei in der Waschküche ein Zettel aufgetaucht, der dem Urheber des «mühevoll ersetzten» Märzplans mit Schlägen drohte. Sie sprach es nicht aus, aber ich sah in ihren Augen, dass sie sich in Zukunft nur noch mit Helm und Kevlar-Weste in die oberen Stockwerke wagen wird. Ich werde es ihr gleich tun.
Das Schreiben blieb trotz des Ultimatums der Verwaltung hängen. Ein Mahnmal des Widerstands gegen die Obrigkeit, unverbrüchlich wie Luthers Thesen an die Eingangstür geheftet mit transparentem Klebeband.
Um Hilfe von aussen einzuholen, erkundigte ich mich in der Whatsapp-Gruppe meines Vertrauens (mehrere Anwälte, ein Journalist, unzählige schlechte Wortspiele), was man in solchen Fällen als guter und grundsätzlich konfliktscheuer Mieter eigentlich zu tun hat, und erhielt die erwartet konstruktive Rückmeldung.
Noch ist kein Blut geflossen. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Vorausgesetzt, die involvierten Kriegsparteien begegnen sich überhaupt irgendwann.
Denn: Auf keinem Schlachtfeld bewegen sich die Schweizerinnen und Schweizer geschickter als im Mehrfamilienhaus. Selbst die unhandlichsten, unförmigsten Gestalten entwickeln plötzlich Fähigkeiten von Meisterdieben, sobald sie den Türrahmen durchschreiten. Schemen huschen dann durchs Treppenhaus, Türen fallen wie von Geisterhand ins Schloss, bei der Verwaltung klingelt das Telefon ins Leere.
Barbara, meine Informantin, zum Beispiel. Kaum hatte ich die Unterhose damals im Trockenraum säuberlich zusammengefaltet, war sie verschwunden. Zurück blieb ein Hauch von Omo Actilift.
Und dann gibt es ja noch den Lift, dieser Deus ex Machina. Barbara nennt ihn den sozialen Tod. Er verschluckt Menschen und erspart ihnen unangenehme Begegnungen im Treppenhaus.
Früher, als ich mich noch nach sozialer Gesellschaft sehnte, stürzte ich jeweils erwartungsfroh an die Türe, sobald ich Schritte im Treppenhaus hörte. Dann öffnete ich die Türe und sah ein Gummibaumblatt sanft im Gehwind wippen.
Mittlerweile hat sich eine Art Stellungskrieg etabliert. Die anfängliche Euphorie wich längst einer Ernüchterung, der tägliche Gang zum Briefkasten ist ein Spiessrutenlauf, im Quartierkiosk begegnet man sich mit feindseligen Blicken.
Wem kann man noch trauen? Die Nachbarin im Rollator, die mich lange Zeit immer höflich grüsste, wenn ich die Türe aufhielt, speiste mich letzthin mit einem schnöden Dankeschön ab. Das bisher geläufige Merci gilt in Kriegszeiten offenbar nicht mehr. Verdächtigt sie mich? Oder hat sie selber etwas zu verbergen?
Es heisst, im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit. Ich würde sagen, zuerst stirbt Sabine, die Nachbarin vom dritten Stock, dann die Pflanze im Treppenhaus. In der Zwischenzeit versuchen wir vor den Nachbarn den Schein aufrechtzuerhalten, unvorstellbar, wenn sich der Konflikt zu einem Mehrfrontenkrieg ausdehnen würde.
Jetzt, in der zweiten Woche, ist die Kriegsmüdigkeit den Bewohnern ins Gesicht geschrieben. Zermürbte, abgekämpfte Visagen allenthalben, viele, vor allem ältere Bewohner, stützen sich auf Gehhilfen, vor unserem Hauseingang stapelt sich der Unrat. Das Chaos schreitet täglich voran, die Apokalypse wird wohl in Form von Katzenhaarrückständen im Flusensieb eintreten.
Von Zeit zu Zeit keimt Hoffnung auf. Kleine Symbole der Menschlichkeit inmitten der Schreckenslandschaft. Lustige Satzzeichen-Gesichter oder formvollendete Herzchen unter den Dokumenten.
Aber man sollte sich nicht durch Smileys täuschen lassen. Sie sind nur ein weiteres Instrument der psychologischen Kriegsführung. Sie symbolisieren vermeintlich Zustimmung und Unterstützung. Hinter den dümmlich-harmlosen Satzzeichen steht aber eine knallharte ironische Machtdemonstration: Mit einem Pinselstrich wird aus einem aufmunternd lächelnden Gesicht ein eine manisch-grinsende Fratze.
Die unabhängige SVP, seit einiger Zeit auf Schmusekurs, hat in den vergangenen Tagen noch einmal verzweifelt versucht, den Friedensprozess anzustossen. Wie Flugblätter über Nordkorea warf sie ihre vielgepriesene Konfliktlösungsformel in unsere Briefkästen – «Nöd motze, wähle!». Die Bewohner aber liessen sich nicht erweichen. Die Friedenstaube SVP ist am Wochenende auch in Wipkingen brutal abgestürzt, minus 5,9 Prozent im Kreis zehn. Währenddessen schweigen die Waffen hier weiterhin drohend.
* Alle Namen geändert. Wipkingen ist ein schöner Ort, die Waschküche Hort des Friedens und der Eintracht. Beim Autor handelt es sich NICHT um eine unverschämte und egoistische Person.