Auf den Deckel hatte Esther ein Bild einer zweiköpfigen Gestalt gemalt, ein Mann und eine Frau in einem Körper. In ihren Händen geheimnisvolle Messinstrumente haltend, standen sie auf einem feuerspeienden Drachen, der wiederum die Erde mit seinen Pranken umkrallt hielt. All das war in ein Oval gefasst und von Monden und Sternen erfüllt.
Esther Fässler konnte gut zeichnen, sehr gut sogar. Ein Talent, das sie für sich behielt, zumindest hatte Roger sie nie beim Ausüben desselben gesehen. Sie tat oft Dinge, in denen sie nicht besonders gut war – und es auch nicht wurde.
Er blätterte weiter. Und sah, wohin ihre ganze Begabung geflossen war: Jede einzelne Seite war bis zum äussersten Rand vollgekritzelt. Kleine Kunstwerke aus Symbolen und Zitaten, einzelne Wörter, die unter Skizzen von Menschen standen, für die Esther einmal die Karten gelegt hatte. Roger wurde in ein irres Gewirr aus Zeichen und Zeichnungen hineingesogen, es war jene mystische Welt, in der seine Mutter zuhause war und die er nie verstanden hatte. Er verstand sie auch jetzt nicht, aber er bekam ein Gefühl dafür, für all die gefühlten Zusammenhänge, mit der sie das Leben wahrnehmen musste. Alles hier war Ahnung, war Empfindung und Eingebung, träumerisch und assoziativ malte sie sich im Schatten des Denkens von Blatt zu Blatt. Bis zur Seite 22. Hier folgte plötzlich ein Kapitel, das sich mit Pflanzen beschäftigte, auf wissenschaftliche Weise. Das liessen jedenfalls die lateinischen Namen und die botanischen Illustrationen darin vermuten.
Mandragora officinarum las er, darunter war die Zeichnung eines unheilvollen Wurzelmännchens mit einem tiefgrünen Blätterfächer auf dem Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen und es schien so fürchterlich zu schreien, dass Roger sich unversehens die Ohren zuhielt.
Unter dem Namen Conium maculatum tauchte eine Pflanze auf, die nach etwas aussah, was auf einer gemeinen Wildwiese wächst. Weisse kleine Blüten, in Dolden angeordnet. Darunter hatte Esther einen Kelch gemalt und SOKRATES geschrieben.
Dann kam die Taxus baccata. Und die erkannte Roger sofort. Es war die Eibe. Das Bäumchen, das seine Mutter so rabiat ausgegraben und auf Josefs Grab gepflanzt hatte – für die Ewigkeit.
Aber Roger fand hier keine Ewigkeit, sondern den Satz: «Ich habe ihn satt.»
Plötzlich ergriff ihn die Angst. Und er rannte auf seinen wiedererwachten Füssen aus dem Haus. Sein Körper hatte etwas begriffen, er war den verschlungenen Pfaden seiner Mutter in eine tiefe Dunkelheit gefolgt, die sein Kopf noch nicht durchdrungen hatte. Er war nun ganz Instinkt. Und dergestalt hastete er ins Auto und fuhr los.
Die Nacht lag schwarz über dem Friedhof. Das grosse Tor war verschlossen, aber beim Nebeneingang hatte sich niemand die Mühe gemacht, nächtlichen Besuchern den Zutritt zu verwehren. Roger ging durchs lottrige Gatter, er war inzwischen wieder so weit gefasst, dass er nicht mehr zitterte. Allerdings wusste er noch immer nicht, was genau er hier eigentlich wollte.
Das Grab seines Vaters lag direkt hinter der Steinskulptur einer auf dem Sterbebett liegenden Frau und ihres trauernden Gatten.
Roger hatte sie bei jedem Friedhofsbesuch betrachtet, stets leicht verstohlen, als würde es ihm nicht zustehen, dem Paar bei diesem intimsten aller Momente beizuwohnen.
Das Moos hatte sich über ihr ganzes Gesicht gelegt, es war nicht zu sehen, wie sie dem Unumgänglichen begegnete. Roger sah nur ihn, den Mann, der neben ihr stand und ihre Hand hielt. Er war der Spiegel, in dem sich ihr Hinscheiden ausdrückte. Und darin war kein Klammern zu erkennen, nicht in seinen Augen und auch nicht in seiner Geste; die Hand wollte die Geliebte nicht zurückhalten, nur begleiten.
Doch jetzt, wo er die zwei in der Finsternis wieder traf, war er sich dessen nicht mehr so sicher.
Er leuchtete mit der Handy-Taschenlampe mitten ins Gesicht des Mannes, suchte nach Anzeichen des Unbehagens, fand sie aber nicht. Dann ging er zur Sterbenden über. Was, wenn unter all dem Moos der Schrecken des Todes lauerte? Was, wenn der Mann nicht nur ihr Geliebter war, sondern ebenso ihr Mörder, der mit Genugtuung dem Erlöschen seines Opfers zusah?
Roger fing an, die grünen Polster vom steinernen Frauengesicht zu kratzen. Doch bevor sich ihm irgendetwas offenbaren konnte, hielt er inne und starrte in die Nacht.
Hinter der Skulptur wiegten sich die Äste der Eibe schaurig im Wind. Wie eine zerzauste Vogelscheuche baute sie sich vor Josefs Grabstein auf. Ihre Äste schienen ihm seltsam verkrümmt. Und als er zum Baum hintrat und sie anfasste, fielen die Nadeln zu Boden.
Die Eibe war tot. Sein Vater war tot. Und die Ewigkeit war eine Lüge.
Als er ins Auto stieg, war auch Roger ein anderer. Die Angst war weg, das klamme Bangen, die dumpfen Befürchtungen, er hatte von allem genug, hatte sich daran gestählt, und war nun bereit für den Schlag der Wahrheit.
Leise öffnete er die Tür und trat ins Haus. Er lauschte – alles war still. Er schlich durch den Gang ins Wohnzimmer, zum Glastisch.
Doch das Buch der Erleuchtung war verschwunden.
Roger horchte noch einmal in den Raum.
Wieder nichts.
Dann setzte er sich aufs Makramee-Kissen und deckte seine Zukunft auf: der Narr. Das Tarot-Pendant zur Inspovation, dachte er. Der Archetyp des Suchenden, der sich mutig und offen ins Leben stürzt.
Roger packte die Karte ein und brach auf.