Es herrscht grosse Unruhe in der sonst so ruhigen Welt des Schachsports. Zwischen Weltmeister und Superstar Magnus Carlsen und seinem Kontrahenten Hans Niemann ist ein Streit entbrannt. Der Hintergrund: Nachdem Carlsen bei einem Turnier im US-amerikanischen St. Louis gegen Niemann verloren hatte, zog er sich von dem Turnier zurück, ohne genau zu erklären, warum. Schnell machten Betrugsvorwürfe gegen Niemann die Runde. Teils wilde Spekulationen entbrannten.
Am vergangenen Montagabend traten die beiden Kontrahenten erneut gegeneinander an – dieses Mal online. Doch nach nur einem Zug klinkte sich Carlsen erneut ohne Erklärung aus der Partie aus. Damit heizte er endgültig eine Kontroverse an, die ihm den guten Ruf kosten könnte. Doch wer sind die beiden Spieler, die die Schachwelt in helle Aufregung versetzen?
Magnus Carlsens Geschichte liest sich wie das Drehbuch eines kitschigen Hollywoodstreifens: vom Aussenseiter zum Superstar. Den ersten Schritt in diese Richtung machte er mit fünf Jahren, als sein Vater ihm die Schachregeln beibrachte.
Carlsens Eltern hatten früh erkannt, dass ihr Sohn ein aussergewöhnliches Gedächtnis besitzt. Dass der Weg seines Sprösslings bis an die Spitze der Schachwelt führen könnte, dürfte Carlsen senior spätestens erkannt haben, als er seinem Sohn am Schachbrett unterlag – da war der junge Magnus gerade einmal acht Jahre alt. Bereits Anfang 2004 im Alter von 13 Jahren wurde Carlsen Grossmeister – der höchste vom Weltschachbund Fide vergebene Rang. Im selben Alter trat Carlsen bereits gegen Schach-Legende Garri Kasparow an.
Dass seine Gabe gelegentlich auch ein Fluch ist, daraus macht das Schach-Ass kein Geheimnis. In der Filmbiografie «Magnus – Der Mozart des Schachs» gibt Carlsen offen zu, dass er in jungen Jahren häufig ein Aussenseiter war, von seinen Altersgenossen skeptisch beäugt wurde. Auch heute kämpfe er noch mit «inneren Dämonen».
Dabei ist Carlsen mittlerweile alles andere als ein Aussenseiter. Im November 2013 sicherte er sich gegen Titelverteidiger Viswanathan Anand den Weltmeistertitel. Mit dem grossen Erfolg kurz vor seinem 23. Geburtstag wurde er nach Kasparow zum zweitjüngsten Weltmeister der Geschichte. Seither verteidigte der Norweger den Titel viermal – 2014, 2016, 2018 und 2021.
Carlsen ist längst der Superstar der Schach-Szene. In seinem Heimatland Norwegen ist er eine gefeierte Ikone. Modemarken engagierten ihn als Werbegesicht. Mit Preisgeldern und Sponsoringverträgen verdient er Millionen – die er in grossen Teilen in den Aufbau seiner Marke «Play Magnus» investiert.
Die nächste Titelverteidigung steht für Carlsen im nächsten Jahr an. Zumindest würde sie dann anstehen. Doch der 31-Jährige gab bereits bekannt, dass er nicht mehr antreten will. «Mir fehlt für einen weiteren Titelkampf die Motivation», liess er in einem Podcast-Auftritt wissen.
Bereits bei seinem letzten Titelkampf im Dezember 2021 hatte der Norweger angedeutet, nur gegen das französisch-iranische Wunderkind Alireza Firouzja antreten zu wollen. Doch bei dem Kandidatenturnier setzte sich sein Gegner aus dem vergangenen Jahr, der Russe Jan Nepomnjaschtschi, durch. Für Carlsen offenbar zu langweilig. Bereits für dieses Verhalten sammelte er Kritik. Arroganz und Respektlosigkeit lauteten die Vorwürfe. Sein Umgang mit Niemann lässt die Stimmung gegen Carlsen wohl endgültig kippen.
Die Karriere des Mannes, der so arg am Image des Schachweltmeisters kratzt, verlief deutlich weniger geradlinig. Hans Niemann lernte das Schachspielen erst mit acht Jahren. Zu sehr begeisterte den US-Amerikaner das Radfahren – eine Sportart, in der er in Kindheitstagen zu den besten seiner Altersklassen gehörte. Mit zehn Jahren gab er das Radfahren auf und widmete sich voll dem Schachsport.
Schnell machte Niemann Fortschritte, verbesserte sein Elo-Ranking in grossen Schritten. Doch plötzlich begann er zu stagnieren, konzentrierte sich vermehrt auf die Schule und gab mit Beginn der Highschool seinen Traum von einer Karriere als Schachprofi auf.
Als er 2019 begann, sich als Schachlehrer zu betätigen, entdeckte er seine Leidenschaft für das Spiel zurück, stürzte sich in Onlineduelle. Mit Übertragungen auf der Streaming-Plattform Twitch gewann er kontinuierlich an Bekanntheit dazu. Im vergangenen Jahr wurde er schliesslich zum Grossmeister ernannt.
Unbescholten ist Niemann jedoch nicht. Im Rahmen des aktuellen Konflikts mit Carlsen sah er sich gezwungen zuzugeben, dass er in jungen Jahren betrogen habe. «Ich habe bei zufälligen Partien auf ‹chess.com› betrogen. Ich wurde damit konfrontiert. Ich habe gestanden. Und das ist der grösste Fehler meines Lebens», erklärte der 19-Jährige.
Im aktuellen Fall beteuert Niemann jedoch, sauber zu sein. «Wenn sie wollen, dass ich mich völlig nackt ausziehe, werde ich es tun. Denn ich weiss, dass ich sauber bin», sagte er.
Der Druck auf Carlsen, eine stichhaltige Begründung für sein Verhalten zu liefern, wird also immer grösser. Sein Image bekommt auch aufgrund Niemanns Schritt in die Offensive Risse. Der Popstar des Schachs droht wieder zum Aussenseiter zu werden. Die skeptischen Blicke von damals – sie sind jetzt schon zurück.