Diese WM hat so gut angefangen! 5:0 besiegte Gastgeber Russland im Eröffnungsspiel Saudi-Arabien. Dann das packende 3:3 zwischen Portugal und Spanien, gefolgt von Mexikos Sieg gegen Deutschland und schliesslich der Aufstand von Island und der Schweiz gegen Argentinien respektive Brasilien.
Doch seither ist irgendwie der Wurm drin! Von der zweiten Hälfte zwischen Kroatien und Argentinien mal abgesehen ... Statt begeisterndes Offensiv-Spektakel kriegen wir meist nur müdes Ballgeschiebe vorgeführt, statt Traumtore fallen reihenweise Penaltytreffer nach Videobeweis.
Hinzu kommt, dass in den letzten Tagen stets der Favorit nach müdem Kick humorlos 1:0 gewonnen hat. Da leidet nicht nur das euphorische Tippspiel-Herz, auch die grossen Emotionen bleiben auf der Strecke. Doch warum ist das Niveau der WM-Spiele plötzlich so bescheiden geworden? Eine komplexe Frage, die wir mit vier Thesen zu beantworten versuchen.
Wie sagen die Favoriten jeweils vor dem Spiel? «Es gibt keine Kleinen mehr!» Natürlich ist das Quatsch. Doch die Kleinen haben mittlerweile ein Mittel gefunden, um die Grossen zu ärgern. Und zwar indem sie resolut verteidigen und mit Mann und Maus hinten rein stehen.
Das Paradebeispiel: Der Iran. Im zweiten Gruppenspiel gegen Spanien standen die «Prinzen aus Persien» fast über die ganzen 90 Minuten mit zehn Mann hinter dem Ball. Das Ziel: Die Räume eng machen und den Ball von der Gefahrenzone fernhalten.
Die Taktik ging fast auf: Nur dank eines Flipper-Tors von Diego Costa siegten die Spanier. Doch die Partie zeigte eindrücklich auf, dass selbst die spielerisch beste Mannschaft der Welt Probleme bekommt, wenn der Gegner gut organisiert ist und sich mit viel Leidenschaft und Kampfkraft gegen die Niederlage stemmt.
Auch die Brasilianer können davon ein Liedchen singen. Sie kamen gegen die Schweiz trotz haushoher Überlegenheit nicht über ein 1:1 hinaus.
Weil die Kleinen die Grossen so immer mehr zur Verzweiflung bringen, sind Standards wichtiger denn je. Kein Wunder fielen 29 der bislang 51 WM-Tore nach einem ruhenden Ball.
Für die Grossen ist das Überstehen der Gruppenphase vor allem eines – eine lästige Pflicht. So richtig beginnt die WM nach ihrem Selbstverständnis erst in der K.o.-Runde. Für die Kleinen dagegen sind die drei WM-Spiele in der Gruppenphase ein «Once in a Lifetime»-Erlebnis.
Die Spieler von Peru, Marokko oder Island dürfen nicht damit rechnen, zweimal hintereinander an einer WM teilzunehmen. Deshalb geben sie in ihren Spielen gegen Frankreich, Portugal oder Argentinien alles. Sie gehen wie selbstverständlich bis an den Rand der totalen Erschöpfung, während sich die Spieler der Favoriten in der Schlussphase kaum mehr in den roten Bereich begeben, sich unterbewusst bereits auf höhere Aufgaben schonen.
Ob du in der Gruppenhase 1:0 oder 4:0 gewinnst? Völlig egal! Hauptsache du gewinnst und schaffst es in die K.o.-Runde. Die Favoriten schalten nach einer Führung deshalb schnell einmal in den Kontroll-Modus und lassen Ball und Gegner laufen. Das Motto: Besser den knappen Vorsprung über die Zeit bringen, als auf Teufel komm raus das zweite Tore suchen und dann womöglich in einen Konter zu laufen.
So überliess Frankreich nach dem 1:0 durch Kylian Mbappé Peru beispielsweise völlig die Kontrolle. Die Südamerikaner hatten bis zum Ende 56 Prozent Ballbesitz und schlugen mit 418:298 deutlich mehr Pässe. Trotzdem kam Frankreich mehr oder weniger souverän zum Minisieg.
Aber kein Vorwurf: Die ersten beiden Spiele an einer WM sind einfach zu wichtig, um die taktischen Fesseln bereits zu lösen. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Gastgeber Russland zeigt bislang den erfrischendsten Fussball. Der 5:0-Sieg gegen Saudi-Arabien hat das ganze Land euphorisiert und diese Euphorie ist auf die «Sbornaja» übergeschwappt. Ist der grosse Druck erstmal weg, spielt es sich gleich viel unbeschwerter. Wetten, dass wir in der dritten Runde spektakulärere Spiele erleben werden ...
Bislang ist es noch nicht die WM der grossen Superstars! Lionel Messi, Neymar, Mohamed Salah, Antoine Griezmann, Robert Lewandowski, Luis Suarez, Thomas Müller – sie alle taten sich bislang unheimlich schwer. Nur Cristiano Ronaldo hat voll eingeschlagen: Vier Tore hat der vierfache Weltfussballer bereits erzielt, doch auch ihm gelang nach seinem frühen Treffer gegen Marokko in der Folge nicht mehr viel.
Doch warum können die Stars noch nicht glänzen? Zunächst ist da die Erwartungshaltung. Auf den Schultern von Neymar, Messi oder Salah ruhen die Hoffnungen einer ganzen Nation. Das kann durchaus lähmen – vor allem, wenn man bedenkt, dass fast alle schon weit über 50 Pflichtspiele in dieser Saison in den Beinen haben.
Aber auch weil in der Nationalmannschaft die Automatismen nicht so greifen wie im Klub. Dort sind die Superstars die herausragenden Eisbergspitzen eines eingespielten Kollektivs, während im Nationalteam oft die Bindung zum Rest des Teams fehlt.