Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Die grosse Überraschung sind nicht die drei SCB-Siege. Schier unfassbar ist die Dominanz der Berner im physischen Bereich. Ich habe in den letzten zehn Jahren nur eine Mannschaft gesehen, die den HCD so überrollt hat wie der SC Bern soeben im vierten Halbfinale. Ohne Leonardo Genoni in höchster Hochform hätten die Berner nicht 3:2 n.V. gewonnen. Sondern 6:1 oder 7:1. Er hielt in der Verlängerung (66.) auch den Penalty von Simon Bodenmann. Diese Mannschaft, die in dieser Saison auch so furchtlos auf den HCD losgegangen ist wie jetzt der SCB, ist Langnau. Die SCL Tigers walzten am 13. November mit 6:0 über den HCD. Ein Spiel, das dem SCB die taktische Blaupause geliefert hat.
Die Davoser sind grösser und schwerer als die Berner. Und doch haben sie fast alle Zweikämpfe (und zu viele Bullys) verloren. Die vierte SCB-Linie hat jede gegnerische Formation nach Belieben dominiert. Pascal und Alain Berger sowie Gian-Andrea Randegger, vom Verteidiger zum Stürmer umfunktioniert, machten mit ihren Gegenspielern was sie wollten. Der kräftige Riese Alain Berger traf auch zum 2:1.
Diese vierte Linie hat die entscheidende Differenz gemacht. Der rollende Einsatz von vier Angriffsreihen ermöglicht es Trainer Lars Leuenberger «sein Ding» durchzuziehen: er muss nicht mehr darauf achten, wen Arno Del Curto aufs Eis schickt. Weil es keine Rolle spielt.
Diese physische Dominanz ist der Schlüssel zum Erfolg. Ein offenes «Run-and-Gun-Hockey» kann der SCB gegen Davos nicht spielen. Wenn der Bär mit dem Steinbock tanzt – und das hat er am Dienstag beim 1:7 getan – dann ist er chancenlos.
Einen grossen Anteil am Erfolg hat immer noch der gefeuerte Guy Boucher. Er ist der Hauptverantwortliche für die Krise in der Qualifikation und zugleich (aber ungewollt) einer der Väter der Playoff-Sensation.
Wer sich vom grossen Platz her dem Haupteingang des Berner Hockeytempels nähert, kann sehen, warum der SCB beinahe die Playoffs verpasst hat und warum er jetzt vor der grössten Sensation der neueren Hockeygeschichte steht. Noch nie hat eine Mannschaft vom 8. Platz aus das Finale erreicht.
Über dem Haupteingang sehen wir ein riesiges SCB-Poster. Die Spieler sind aufgereiht und in der Mitte, dominant, als sei er das Zentrum des SCB-Universums, steht der inzwischen gefeuerte Trainer Guy Boucher. Schöner könnte das SCB-Problem des letzten Herbstes nicht dargestellt werden.
Guy Boucher ist der extremste taktische Dogmatiker, der je in der Schweiz gearbeitet hat. Ein Dogmatiker ist eine Führungspersönlichkeit, die sich stur weigert von bestimmten Grundsätzen abzulassen. Guy Boucher machte aus den Spielern taktische Marionetten und erstickte jede Eigeninitiative. Das führte dazu, dass jeder nur noch exakt das machte, was der Chef verlangte (auch wenn eine Spielsituation etwas Anderes erforderte) um auf diese Weise einem Donnerwetter zu entgehen. Wir haben nie einen sterileren SCB gesehen als im letzten Herbst. Guy Boucher war zu gross und die Spieler zu klein. Sogar Marc Lüthi, der König von Bern, beugte sich erstaunlich lange vor ihm.
Aber Guy Boucher hat auf diese Weise den Spielern auch viele gute Gewohnheiten beigebracht. Eingebläut. Der SCB war nie eine Chaostruppe und die Spieler haben gelernt, die kleinen Dinge richtig zu tun – was sich jetzt unter anderem in einer beeindruckenden Zweikampfstärke auszahlt.
Der SCB scheiterte unter Guy Boucher letztlich an zu viel System, an zu viel Disziplin, an einer viel zu berechenbaren Spielweise. Die Spieler erstickten im taktischen Konzept. Es war durchaus logisch, dass Timo Helbling unter diesem Chef seine bisher beste Zeit hatte. Er hat mehr als 300 Spiele in Nordamerika bestritten und liess sich von diesem Operetten-NHL-General, anders als seine Teamkollegen, nicht beeindrucken.
Nach der Entlassung von Guy Boucher geriet der SCB erst einmal in ein Vakuum. Erst nach und nach haben die Spieler ihr Selbstvertrauen und den Mut zur Eigeninitiative wiedergefunden. Lars Leuenberger ist der perfekte Nachfolger von Guy Boucher. Dass er kaum Charisma hat, dass er nicht der Typ ist, der mit seiner Präsenz die Kabine füllt wie Guy Boucher gehört zu seinem Erfolgsgeheimnis. Der SCB braucht nach Guy Boucher einen Pragmatiker, einen ruhigen Typ, der seine Spieler und ihre Fähigkeiten genau kennt und genug Selbstvertrauen hat, um sie an der langen Leine zu führen.
Nun hat Lars Leuenberger den SCB in den Playoffs von der Leine gelassen. Wer es lieber poetisch mag: Lars Leuenberger ist der kleine Prinz, der den im taktischen Dornröschenschlaf gefangenen SCB wachgeküsst hat. Von Lars, dem kleinen Eisbären, zu Lars, dem kleinen Prinzen.
Niemand verkörpert den neuen SC Bern besser als Tristan Scherwey. Unter Guy Boucher hatte der Rumpelstürmer sein Selbstvertrauen, seine Identität verloren, wagte schliesslich kaum mehr einen Check und war nur noch ängstlich darauf bedacht, diszipliniert zu sein. Unter Lars Leuenberger ist er nach und nach wieder aufgeblüht und nun hat er das vierte Spiel in der Verlängerung entschieden.
Oben auf der Matchuhr läuft die zweitletzte Minute der Verlängerung. Er stürmt los, der Titan Beat Forster fällt um. Tristan Scherwey hat freie Bahn und bezwingt Leonardo Genoni 58 Sekunden vor Schluss der Verlängerung zum 3:2. Eines der intensivsten, dramatischsten SCB-Spieler der Neuzeit ist entschieden.
Aus Guy Bouchers taktischen Marionetten sind in den Playoffs echte, selbstsichere Männer (wahre Berner) geworden. Jeder spielt jetzt so, als wäre er einen Kopf grösser und fünf Kilo schwerer und zehn Stundenkilometer schneller als im September, Oktober, November, Dezember und Januar.
Der SCB ist auferstanden. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, dass Lars Leuenberger jetzt zum ersten Mal in dieser Saison über die komplette Mannschaft verfügt und so vier Linien einsetzen kann. Wir sehen gegen ein starkes Davos einen charismatischen, wuchtigen, dynamischen, selbstsicheren SCB. Diese vierte Halbfinalpartie war eines der intensivsten (und damit besten) SCB-Heimspiele der letzten 20 Jahre. Dass die exzellenten, fehlerfreien Schiedsrichter mit ihrer grosszügigen Regelauslegung einen grossen Anteil an diesem Spiel hatten, sollte nicht unerwähnt bleiben.
Ein starker HCD? Ja, es ist ein starker HCD. Gegen jeden anderen Gegner würden sich die Davoser durchsetzen. Aber ist es so, als wären sie unter einen fahrenden Zug geraten. So wie in diesen zwei Halbfinal-Heimspielen ist in den letzten zehn Jahren nie mehr eine Mannschaft auf den HCD losgegangen. Es war, als sei der Leibhaftige vom Gurten herabgefahren.
So ist es gelungen, ins Nervenzentrum einzudringen: der Schlüssel des hochmodernen und hochentwickelten HCD-Spiels ist die blitzschnelle Angriffsauslösung. An einem guten Abend löst niemand die Angriffe so präzis und so schnell aus wie die Davoser. Die Berner haben es geschafft, diese Angriffsauslösung mit der Wucht ihres Forecheckings zu verhindern – und zwar, wie eingangs schon erwähnt – auch mit der vierten Linie.
So haben vier Linien ohne Unterlass Welle um Welle über den HCD gerollt. Die Angriffsauslösungen waren nicht mehr möglich. Es gibt keine offizielle Statistik. Aber mit ziemlicher Sicherheit liefen die Davoser noch nie in dieser Saison so oft ins Offside und verzeichneten so viele unerlaubten Befreiungsschläge (Icing) wie in dieser vierten Halbfinalpartie.
Oder geht dem HCD die Kraft aus? Gelingen die Angriffsauslösungen nicht mehr, weil die Energie fehlt? Arno Del Curto sagt es – aber da irrt er sich. Die Berner mussten ihre besten Spieler während der Qualifikation eher noch stärker belasten. Die Davoser konnten ihr Spiel nicht entfalten, weil es der Gegner nicht zuliess.
Gegen jeden anderen Gegner wäre mit der 3:1-Führung die Entscheidung gefallen. Aber nicht gegen den HCD. Denn die Bündner sind mental so robust, dass sie diese schwere dritte Niederlage wegstecken können. Sie haben mit Arno Del Curto einen Trainer, der nicht in Panik gerät und genug Spieler, die wissen, wie man sich aus kritischen Situationen befreit und Meisterschaften gewinnt.
Der SCB war schon einmal in einer ähnlichen Lage wie jetzt: Im Frühjahr 2012 gewannen sie auswärts im Hallenstadion die vierte Finalpartie und führten im Finale 3:1 – sie hatten nun drei «Matchpucks» und zwei Heimspiele. Die ZSC Lions unter Bob Hartley holten den Titel im 7. Spiel in Bern.
Arno Del Curto wie Bob Hartley? Das schliesse ich nicht aus. Aber wenn der SCB das Finale erreicht, dann kommt es anschliessend zur grössten Playoff-Sensation aller Zeiten. Mit dem SCB wird erstmals eine Mannschaft vom achten Platz aus den Titel holen – egal, ob der Gegner im Finale Lugano oder Servette heisst.