Ambris Trainer Luca Cereda hat ein phänomenales Gedächtnis. Er wird nach dem 4:4 – ein Spiel, zu dem es viel zu reden gibt – gefragt, ob er schon einmal ein Unentschieden im Derby erlebt habe. Er sagt spontan: «Ja, am Ende stand es 1:1 und ich hatte das Tor für Ambri erzielt.»
Siehe da: So war es. Am 29. September 1998, also noch im letzten Jahrhundert, endet das Derby in der Valascia 1:1. Peter Andersson (der Vater von Calle Andersson) trifft für Lugano schon nach 4:11 Minuten zum 1:0. Luca Cereda erzielt nach 32:17 Minuten den Ausgleich. Dabei bleibt es. Unentschieden. Und nun ist er 26 Jahre später wieder an einem Remis im Derby in einer Hauptrolle beteiligt. Es ist auch sein erstes Remis in sieben Jahren als Cheftrainer von Ambri.
Zum bisher letzten Mal trennten sich Ambri und Lugano am 14. Januar 2005 im Derby ohne Entscheidung (2:2). Unentschieden gibt es seit der Einführung der Drei-Punkte-Regel vor 18 Jahren (auf die Saison 2006/07) im Hockey nicht mehr. Jede Partie wird entweder durch eine Verlängerung von fünf Minuten oder Penalty-Ausmarchung (in der Qualifikation) oder durch Verlängerung bis zum nächsten Tor (Playoffs) entschieden. Der kuriose Play-In-Modus macht es möglich, dass wir nun einem historischen Ereignis beiwohnen durften: dem ersten Unentschieden in einem regulären, offiziellen Meisterschaftsspiel seit fast 20 Jahren.
Die Ausgangslage ist nun einfach: Der Derby-Sieger zieht am Samstag direkt in die Playoffs ein (es wird im Rückspiel kein Unentschieden geben, Verlängerung bis zur Entscheidung) und der Verlierer bekommt eine zweite Chance gegen den Sieger des Duells Biel gegen Servette. Play-In ist zwar nicht exakt wie Playoff, eher eine Sprintversion des Playoff-Modus. Weil es ja maximal nur über zwei Spiele geht. Echte Playoffs gehen über drei Spiele.
Luca Cereda kann am Samstag wieder Historisches vollbringen: Noch nie hat Ambri Lugano in den Playoffs oder einer playoffähnlichen Auseinandersetzung besiegt. Nicht im legendären Playoff-Final von 1999. Auch nicht 2006, als eine 3:0-Führung im Viertelfinal nicht reicht, um Lugano auf dem Weg zum bisher letzten Titel zu stoppen.
Nun sind die Zeiten ganz andere. Die Rivalität ist geblieben. Es ist eine der leidenschaftlichsten in unserem Hockey. Aber sie ist nur noch Theaterkulisse. Ambri steht wieder auf festem sportlichem und finanziellem Grund und ist mit seiner Kultur und Geschichte im Reinen. Noch nie waren Ambri und Lugano so ähnlich. Weil Ambri nicht mehr versucht wie Lugano zu sein. Sondern Lugano sein möchte wie Ambri. Weil Lugano nun auch, wie Ambri, einen Trainer aus seinen eigenen Reihen hat. Weil Lugano, wie Ambri, Spieler ausbildet und in der ersten Mannschaft einsetzt. Weil Lugano auf eine sympathische Art und Weise bescheiden geworden ist.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
5,2
09.22
5,2
09.23
5,2
01.24
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Marco Weder, seit 2019 Luganos Manager, mag diese Betrachtungsweise nicht unkommentiert stehen lassen. «Ja, wir setzen auf unsere eigenen Leute. Es ist einfacher für uns zu arbeiten und zu spielen, wenn jemand weiss, wie wir sind. Und ja, wir setzen auf unsere eigenen Spieler. Es gab in dieser Saison Partien, da hatten wir sechs Spieler im Juniorenalter auf dem Matchblatt. Die Situation ist im Tessin so speziell, dass wir eigene Wege gehen müssen.» Logisch. Der Markt im Tessin mit zwei NL-Teams im Hockey und einem Fussballteam in der höchsten Liga ist begrenzt. Aber er betont: «Wir sind nach wie vor ambitioniert.» Das ist vielleicht der letzte Unterschied: Ambri kann ohne Meistertitel glücklich sein. Lugano nicht ganz. Der nächste Titel bleibt das Ziel.
Die bange Frage vor dieser Saison, ob Lugano sein könne wie Ambri, ist also fürs Erste beantwortet: Ja, Lugano kann Ambri kopieren. Und zwar so gut, dass beide nicht nur nach 52 Partien auf den Rängen 7 (Lugano) und 8 (Ambri) exakt gleich viele Punkte (79) und fast das gleiche Torverhältnis (Lugano 162:151, Ambri 153:151) haben. Nun endet auch das Play-In-Hinspiel unentschieden.
Ambri kann nur 4:0 in Führung gehen, weil Luganos Torhüter Mikko Koskinen mindestens zwei haltbare Treffer kassiert (Fangquote: miserable 83,33 Prozent). Ab Spielmitte dominiert Lugano und darf sich am Ende mehr Torschüsse (32:24) notieren lassen. Lugano kopiert auf dem Eis Ambri: mit dem gleichen schnellen, direkten, manchmal stürmischen Energiehockey.
Früher hatte Lugano aufgrund seiner grossen Geldspeicher meistens die besseren, talentierteren Einzelspieler. Ambri machte das fehlende Talent mit Leidenschaft und Kampfgeist wett. Nun ist Lugano spielerisch nicht mehr viel besser. Aber demütiger, leidenschaftlicher, bissiger – ganz so wie Ambri. Deshalb hat Lugano selbst nach einem deprimierenden 0:4 mit einem Lottergoalie als brüchigem Rückhalt nicht den Mut und die Zuversicht verloren und aus einem 0:4 ein 4:4 gemacht. Das Tor zum 2:4 gelingt sogar in Unterzahl. Ausgerechnet durch Marco Müller, der doch einst ein Held in Ambri war.
Lugano wie Ambri (oder sagen wir: fast wie Ambri) – das ist die hockeykulturelle Story dieser Saison. Noch nie waren sich Lugano und Ambri so ähnlich wie heute. Die Rückkehr zu den Wurzeln, zur Bescheidenheit, die Ambri schon 2017 mit der Verpflichtung von Sportchef Paolo Duca und Trainer Luca Cereda eingeleitet hat, bringt Lugano bereits im ersten Jahr auf allen Ebenen Vorteile: Erstmals seit dem Wiederaufstieg von 1982 wird Lugano in der Deutschschweiz nicht mehr als Klub der Millionäre wahrgenommen. Zum Sympathiegewinn kommt die Kostenersparnis: Noch nie war die Mannschaft im Verhältnis zur Konkurrenz so günstig. Das Publikum ist ob der neuen Bescheidenheit zwar nicht restlos begeistert. Aber der Rückgang gegenüber den Jahren des Ruhmes ist verkraftbar: Während der letzten Finalsaison 2017/18 kamen in der Qualifikation im Schnitt 5762 Fans. Diese Saison sind es 5071.
Noch nie war im Tessiner Hockey so viel sportliche Gleichheit, Harmonie, Romantik und gegenseitiges Verständnis auf Führungsebene. Ambris Sportchef Paolo Duca mag diese Feststellung denn doch nicht ganz ohne weiteren Kommentar stehen lassen. «Diese Romantik scheint mir eher die Romantik eines Betrachters aus der Deutschschweiz zu sein. Wir verstehen uns gut mit Lugano. Aber ich spüre im Tessin immer noch eine so grosse Rivalität, dass Romantik dafür nicht das passende Wort ist …»
Recht hat er wohl schon. Aber diese Annäherung und neue Gleichheit im Tessiner Hockey ist wahrlich Hockey-Romantik, die rockt. Das 4:4 war jedenfalls ein weiterer unvergesslicher Abend für Hockey-Romantiker. Ein Spiel, für das ein Erinnerungs-T-Shirt gedruckt werden sollte.