Unvorstellbare Zustände? Ja, auf diesen Nenner bringt Simon Schenk heute mit einem Schmunzeln die zwei bisher hitzigsten Playoff-Gipfeltreffen unserer Hockey-Historie. Er hat sie als Sportchef der ZSC Lions an vorderster Front mitgestaltet. Heute arbeitet er als TV-Experte bei «My Sports».
2000 und 2001 gewinnen die Zürcher die Meisterschaft zweimal hintereinander im Finale gegen Lugano. Erst im Frühjahr 2017 wird es mit dem SCB einem Meister wieder gelingen, den Titel zu verteidigen.
Die Jahrhundertwende beschert uns die letzten wilden Jahre. Es ist eine Zeitenwende an der Bruchlinie zwischen Sportromantik und Moderne. Am Horizont sind bereits die Konturen des neuen Zeitalters, des durchorganisierten professionellen Hockey-Geschäftes zu sehen, wie wir es heute kennen.
Die ZSC Lions und Lugano sind schon damals die teuersten Mannschaften der Liga. Im Jahr werden in Zürich und Lugano mehr als 10 Millionen ins Hockeybusiness investiert. Heute doppelt so viel.
Lugano ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter der Führung des charismatischen Banden- und Bürogenerals Jim Koleff (er verstirbt 2008 viel zu früh im Alter von 55 Jahren) wieder erfolgreich. Nach neun Jahren wird Lugano 1999 im Finale gegen den Kantonsrivalen Ambri endlich wieder Meister. Nie vorher und nie nachher ist das Tessiner Hockey besser als um die Jahrhundertwende.
Aber Lugano ist weit von der Grandezza des «Grande Lugano» der 1980er Jahre entfernt (Meister 1986, 1987, 1988 und 1990). Das neue Selbstvertrauen ist unstet und zerbrechlich. Die ZSC Lions stehen für alles, was Lugano missfällt: die Arroganz und die politische Macht der Deutschschweizer, die angeblich dem Tessiner Hockey den Erfolg missgönnen und sich mit den Schiedsrichtern gegen Lugano verschwört haben.
In den 1990er Jahren ist das Stadtzürcher Hockey vom sportlichen und finanziellen Untergang bedroht. Die Musik spielt in Kloten (Meister 1993, 1994, 1995 und 1996). Aber im Frühjahr 1997 entsteht aus der Zusammenarbeit des Zürcher SC und des Grasshopper Clubs (GC) ein mächtiges neues Hockeyunternehmen: die ZSC Lions. Der Emmentaler Simon Schenk baut als Sportchef mit grossem Geschick und voller «Transfer-Kriegskasse» eine meisterliche Mannschaft. Berndeutsch wird zur Zürcher Hockey-Erfolgssprache.
2000 holen die ZSC Lions den Titel im 6. Finalspiel. Verteidiger Adrien Plavsic trifft im Hallenstadion exakt 10 Sekunden vor Schluss zum 4:3. Listig hat ein Zürcher Stürmer Luganos Torhüter Cristobal Huet (der es später in der NHL zum Dollar-Millionär und Stanley Cup-Sieger bringen wird) mit dem Stock irritiert. Also Foul. Ein weiterer Beweis für die Verschwörung gegen Lugano.
Fussball-Rock’n’Roller Frédéric Chassot tanzt in der Nacht des Titelgewinnes mit den ZSC-Spielern im Niederdorf auf den Tischen, wird dabei fotografiert und meldet sich fürs Spiel am nächsten Tag krank. Er löst beim FC Zürich eine Staatskrise aus. Simon Schenk gewährt Meistertrainer Kent Ruhnke keine Vertragsverlängerung. Was ihm der inzwischen eingebürgerte Kanadier bis heute nicht verziehen hat. Neuer Trainer wird Larry Huras.
2001 ist die Stimmung so aufgeladen, dass ZSC-Bürogeneral Franz Kälin im Hallenstadion zur Entspannung Schokoladeherzchen verteilen lässt. Lugano führt in der Serie 3:1 und scheitert doch. Die Entscheidung fällt im 7. Spiel in der Resega. Morgan Samuelsson (heute ein clownesker TV-Experte) trifft in der 11. Minute der Verlängerung zum 2:1. Es gibt keine «Schoggi-Herzchen». Das aufgebrachte Volk schmeisst alles was nicht niet- und nagelfest ist aufs Eis. Auch abmontierte Sitzbänke. Die Reporterin des staatstragenden Fernsehens flüchtet vor laufender Kamera in den Kabinengang. Liga-Präsident Franz A. Zölch übergibt den Zürchern den Meisterpokal im kleinen Kreis in der Kabine.
Diese wüsten Szenen führen zu einer Grundsatzdiskussion über Sicherheit, Ordnung und Anstand in den Stadien und schliesslich zum geordneten Spielbetrieb, wie wir ihn heute als selbstverständlich erachten. 2016 holt der SCB den Titel in der Resega in einer friedlichen Atmosphäre. Mit würdiger Pokalübergabe.
Zweimal ist Qualifikationssieger Lugano also an der Leidenschaft, der taktischen Schlauheit und an den Paraden von ZSC-Torhüter Ari Sulander zerbrochen. Kein Zufall, dass der Finne bis heute der einzige Spieler ist, dem der Legendenstatus mit hochgezogenem Dress im Hallenstadion gewährt wird. Captain ist 2001 Mark Streit, der sich später als erster helvetischer Feldspieler in der NHL durchsetzen wird und erst im vergangenen Herbst seine grandiose Karriere im Alter von 39 Jahren beendet hat.
Nicht nur auf dem Eis geht es in einer heute unvorstellbaren Art und Weise zu und her. Noch werden nicht alle Partien live übertragen. Eine permanente Video-Überwachung gibt es nicht. Aber es ist möglich, in Zug bei der Kanzlei von Einzelrichter Heinz Tännler (heute Zuger Regierungsrat) Videos einzureichen.
Bald einmal bricht während der Finaltage 2001 ein «Video Du mir, so Video ich Dir» aus. Lugano kommt erst zur Vernunft, als Simon Schenk auf eine unsinnige Video-Eingabe mit sieben Videos kontert.
Andere Zeiten, andere Sitten und eine längst untergegangene Hockeywelt. Aber es gibt «ewige» Spieler. Drei, die 2001 beim letzten Finale dabei waren, treten nun wieder an. Verteidiger Julien Vauclair (38) und Stürmer Raffaele Sannitz (34) bei Lugano und Mathias Seger (40) bei den ZSC Lions.
Wie wird es ab Donnerstag zu und her gehen? Natürlich nicht mehr wie zu Beginn dieses Jahrhunderts. Aber es ist eine «heisse» Serie. Vielleicht wird es gar die heisseste seit 2001. Weil zwei Aussenseiter mit riesigem Potenzial um den Titel spielen.
Die ZSC Lions Aussenseiter? Der HC Lugano Aussenseiter? Die zwei Klubs, die im Besitze eines Milliardärs (Walter Frey) und einer Milliardärin (Vicky Mantegazza) sind?
Ja, so ist es. Alleine die Klassierung in der Qualifikation – Lugano 4., die ZSC Lions 7. – zeigt es ja. Beide sind zwischen September und März unter den Erwartungen geblieben. Beide befinden sich auf einer «Mission Wiedergutmachung». Beide sehen eine einmalige Chance, die Saison in nie erwarteter Art und Weise zu krönen. Lugano wartet bereits seit 2006 auf den nächsten Titel. Die Zürcher waren immerhin 2014 letztmals Champion.
Der «Groove» ist also ein ganz anderer als zwischen zwei Titanen, die eine schöne, ruhige Saison hinter sich haben. Mehr Emotionen, mehr Polemik.
Für Lugano ist das nächste Finale seit 2016 zwar auf den ersten Blick eine Überraschung. Jedoch nicht bei näherem Hinsehen. Präsidentin Vicky Mantegazza mag zwar den Spielern zu oft recht geben und nicht die «knallharte» Macherin sein, die manche im Hockey-Schlaraffenland unter Palmen wünschen. Aber sie ist eine ehemalige Spielerin und weiss sehr wohl, warum eine Mannschaft funktioniert und warum nicht.
Sie hat klug und beharrlich, fast unbemerkt von der Konkurrenz in der Deutschschweiz, die Mentalität in ihrem Unternehmen verändert: sie achtet darauf, dass die Spieler, die «ihr» Dress überstreifen, mit Stolz und Leidenschaft bei der Sache sind. Geld ja, aber nicht nur für Talent. Sondern auch für Charakter. Sie sorgt dafür, dass Geld und Geist wieder besser ausbalanciert sind.
Lugano ist im Laufe dieser Playoffs eine verschworene, leidenschaftlich kämpfende Mannschaft geworden. Es ist das emotionalste Lugano seit Menschengedenken.
Auch die ZSC Lions schlagen inzwischen emotionale Funken. Sie haben vom 7. Platz aus erst die Zuger (2.) und nun Meister und Qualifikationssieger Bern aus den Playoffs gekippt. Es sind die emotionalsten ZSC Lions seit dem Titelgewinn von 2012. Auch hier stimmt inzwischen nach dem Trainerwechsel und einigen energischen Auftritten von Sportchef Sven Leuenberger die Balance zwischen Geld und Geist wieder.
ZSC Lions gegen Lugano, mit Heimvorteil Lugano. Was entscheidet? So vieles ist anders geworden seit 2001. Nur eines nicht: Eishockey ist, wenn am Ende der bessere Torhüter gewinnt.
2000 und 2001 war ein ganz grosser Ari Sulander noch besser als ein grosser Cristobal Huet. Wird 2018 ein ganz grosser Lukas Flüeler noch besser sein als ein grosser Elvis Merzlikins?