Eine sachlich-statistische Analyse ist natürlich langweiliger als Polemik. Aber einem WM-Halbfinal ist Sachlichkeit geschuldet. Die Deutschen sind besiegt. Der Halbfinal ist erreicht und die Pflicht erfüllt. Nun beginnt die Kür. Der WM-Himmel ist die Limite.
Das aktuelle WM-Team ist bis auf die Torhüterposition eindeutig besser als die Silber-Mannschaften von 2013 und 2018. Der Vorstoss in den Halbfinal ist keine Sensation mehr wie 2013 und 2018. Nicht einmal eine Überraschung. Der Sieg gegen die Deutschen war logisch und hockeytechnisch zwingend.
2013 und 2018 waren dabei: Reto Berra, Roman Josi, Nino Niederreiter und Patrick Fischer – 2013 als Assistent von Sean Simpson, 2018 als Nationaltrainer.
Nur 2013 war dabei: Andres Ambühl.
Nur 2018 waren dabei: Leonardo Genoni, Sven Andrighetto, Kevin Fiala, Michael Fora, Gaëtan Haas, Dean Kukan und Tristan Scherwey.
Diese kleine Übersicht zeigt, wie viel Halbfinal-Erfahrung im Team steckt: Fast die Hälfte der Spieler wissen, wie man einen WM-Halbfinal gewinnt. Kommt dazu: Roman Josi und Kevin Fiala sind so gut wie noch nie.
Diese kleine Übersicht zeigt deshalb auch: Die Chancen gegen Kanada stehen am Samstag (18.20 Uhr, live SRF) mindestens bei 50 Prozent.
Leonardo Genoni parierte 2018 im Halbfinal gegen Kanada 43 von 45 Pucks. Die Schweizer gewannen 3:2. Die Tore erzielten Gaëtan Haas, Tristan Scherwey und Grégory Hofmann.
2013 liess Reto Berra im Halbfinal gegen die USA keinen Treffer zu (3:0). Die Tore erzielten Nino Niederreiter, Julian Walker und Reto Suri.
Dieser kleine Überblick zeigt, dass der Torhüter im Halbfinal die Differenz macht. Mit Reto Berra in der Halbfinal-Form von 2013 oder mit Leonardo Genoni in der Halbfinal-Form von 2018 würden wir gegen Kanada gewinnen und wahrscheinlich Weltmeister werden.
Reto Berra ist 2024 bei weitem nicht mehr der Reto Berra von 2013. Die Frage ist also: Ist Leonardo Genoni 2024 nach wie vor so gut wie 2018?
Die Statistik sagt: Er ist sogar besser. Seine aktuelle WM-Fangquote (92,55 Prozent) ist nämlich höher als 2018 (91,50 Prozent). Hat die Statistik recht? Nein. Leonardo Genoni ist 2024 nicht besser als 2018. Muss er auch nicht sein.
Sicher ist: Die Schweiz wird gegen Kanada – wenn er denn spielt – nicht wegen Leonardo Genoni verlieren. Die Frage ist: Wird die Schweiz dank des siebenfachen Meisters gewinnen?
Warum nicht? Es mag sein, dass der ehemalige ZSC-Junior nicht mehr ganz so flink und reflexschnell ist wie 2018. Aber er ist nach wie vor einer der intelligentesten Torhüter dieser WM. Er kompensiert mit Spielintelligenz und Erfahrung nachlassende Beweglichkeit und Reflexe – falls die tatsächlich nachgelassen haben sollten. Kommt dazu: Defensiv sind die Schweizer stabiler als 2018. Gegen Deutschland haben sie zum 6. Mal hintereinander bei fünf gegen fünf Feldspieler keinen Treffer zugelassen. Im Vorrundenspiel kamen die Kanadier gegen Leonardo Genoni nur zu 23 Schüssen.
Offensiv sind die Schweizer mit den vier NHL-Titanen Roman Josi, Nico Hischier, Kevin Fiala und Nino Niederreiter unberechenbarer, magischer als 2018. Die Bilanz von Nino Niederreiter (2 Tore / 4 Assists) mag eine leise Enttäuschung sein. Aber nun kommt «sein» Spiel: Die Intensität der Kanadier wird ihm behagen.
Die sachliche, auf die Statistik gestützte Analyse unseres WM-Teams vor dem Halbfinal gegen Kanada sagt: Defensiv und offensiv besser als 2018 und reif für den WM-Titel.
Dass die Schweizer für die Viertelfinal-Partie gegen Deutschland mit der Eisenbahn nach Ostrava reisen mussten (nicht ganz 4 Stunden), die Kanadier hingegen für ihren Viertelfinal gegen die Slowakei in Prag bleiben durften, ist kein Nachteil. Eher ein Vorteil: So eine Reise sorgt für einen Tapetenwechsel und befeuert den Teamgeist.
Wie wir es auch drehen und wenden: Ob wir Titelverteidiger Kanada besiegen oder gar Weltmeister werden, hängt vom Torhüter ab.
Patrick Fischer hat die Wahl zwischen zwei Torhütern. Die Nummer 1: Leonardo Genoni (92,55 Prozent Fangquote), in der Vorrunde Verlierer gegen Kanada (2:3), Sieger gegen Tschechien, Norwegen sowie Dänemark und im Viertelfinal Sieger gegen Deutschland. Die Nummer 2: Akira Schmid (94,50 Prozent), Sieger gegen Österreich (im Schlussdrittel), Grossbritannien und Finnland. Reto Berra (66,67 Prozent aus 40 Minuten gegen Österreich) kann neben dem Eis viel zur guten Stimmung beitragen. Aber auf dem Eis nicht mehr.
Die Torhüterfrage zeigt uns: Ein Nationaltrainer kann sich bei der Nominierung der Goalies nicht einfach blind auf die Statistik verlassen. Wäre das so, wäre der Job zu einfach.
Genoni wird Halbfibal und allfälliger Final spielen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Alles andere wäre gröbster Unfug.
Schmid im Spiel um Platz3, das wäre aber sinnvoll