Jetzt ist der FC Thun für die Buchmacher schon der Favorit auf den Meistertitel
Jetzt sind es schon neun Punkte. So gross ist der Vorsprung des FC Thun auf die nächsten Verfolger bereits. Der Aufsteiger dominiert die Super League:
Darauf hatte noch vor wenigen Monaten nichts hingedeutet. Nach dem Aufstieg galt Thun gemeinsam mit dem FC Winterthur für die meisten Beobachter als jene Mannschaft, die am ehesten für den direkten Abstieg in Frage kommt. Aber während Winterthur nun tatsächlich Schlusslicht ist, abgeschlagen nach dem 0:1 gegen GC, läuft es den Berner Oberländern wie am Schnürchen.
Am Samstagabend in Genf feierte der FC Thun den sechsten Sieg in Folge. Gegen Servette lief es auf ein 0:0 hinaus, doch in der 90. Minute durfte Leonardo Bertone einen Freistoss treten, aus rund 22 Metern, zentral vor dem Tor. Der Routinier holte Anlauf, schoss … und schlenzte den Ball zum Sieg in den Winkel:
Vom Aussenseiter zum Favorit
Man behauptet gerne, dass wer als Leader ein Spiel auf diese Art gewinnen könne, das Zeug zum Meister habe. Der Underdog, der in den 127 Jahren seines Bestehens noch nie einen Titel gewonnen hat, überzeugt in dieser Saison vorne und hinten: Thun hat bislang die meisten Tore erzielt und die wenigsten erhalten.
Für die Buchmacher von Sporttip ist der FC Thun deshalb mittlerweile der Favorit auf den Titel. Gemeinsam mit dem FC Basel, dem Double-Gewinner der vergangenen Saison, hat Thun mit 2,6 aktuell die tiefste Quote. Das heisst: Wer 10 Franken auf den Meistertitel der Berner Oberländer setzt, erhält im Erfolgsfall 26 Franken zurück.
Die Quote ist damit zusammengesackt wie ein Kartenhaus bei einem Erdbeben: Beim Saisonstart gehörte der FC Thun mit einer Meisterquote von 100:1 noch zu den krassen Aussenseitern. Jene von Basel betrug damals 2,0 und jene von YB 3,5.
Erinnerungen an Leicester City
Auf Anfrage von watson gibt Sporttip-Anbieter Swisslos bekannt, dass rund vier Prozent des gesamten Umsatzes der Meisterwette auf den FC Thun entfallen. Vor der Saison sei der Anteil «verschwindend klein» gewesen.
Kann Thun tatsächlich bis Ende Saison durchziehen und sensationell den Meisterpokal in die Höhe stemmen? Ein Vorbild dafür kommt aus England. Dort gelang Leicester City in der Saison 2015/16 die unfassbare Sensation, Meister zu werden – als 5000:1-Aussenseiter.
Daran erinnern sich offenbar die meisten Fussballfans, die ihr Geld auf den FC Thun gesetzt haben. Denn laut Swisslos haben bisher nur wenige das Angebot genutzt, sich die Wette auf Thun als Meister schon jetzt auszahlen zu lassen. «Offenbar glauben die Wettenden weiterhin an den Titelgewinn und möchten nicht denselben Fehler begehen wie einige englische Sportfans bei Leicester, die sich ihre Wetten frühzeitig – und für einen Bruchteil des möglichen Gewinns – ausbezahlen liessen.»
Wer auf jeden Fall voller Überzeugung ist, ist die Thuner Mannschaft. «Wir glauben daran, dass wir jeden Gegner schlagen können», betonte Trainer Mauro Lustrinelli im SRF nach dem Sieg gegen Servette. Was den Teamgeist und die Mentalität betreffe, erkenne er durchaus Parallelen zu seiner Spielerzeit in Thun. 2005 wurden «Lustrigol» und Co. Vizemeister, dem Aussenseiter gelang danach sogar der Sprung in die Champions League.
«Wir setzen uns keine Grenzen»
Der 49-jährige Tessiner ist einer der Erfolgsfaktoren für Thun. Ein anderer ist Andres Gerber, damals Lustrinellis Mitspieler und heute Präsident. Er wehrte sich schon vor wenigen Wochen nicht dagegen, dass bereits über einen möglichen Meistertitel spekuliert wird. «Wir sind nach zehn Runden Erster, und das nicht nur mit Glück. Darum würde ich es nicht kategorisch ausschliessen», sagte Gerber im Sportpanorama.
Diese erfrischende Offenherzigkeit ist im Fussballgeschäft selten geworden. Trainer Lustrinelli spricht ein wenig verklausulierter, aber auch er betont: «Wir setzen uns keine Grenzen. Was wir machen, wollen wir noch besser machen.»
Wie häufig, wenn Aussenseiter die grossen Teams überraschen, ist eine sattelfeste Defensive die Basis für die Erfolge. Der 24-jährige Niklas Steffen erhält mit die besten Zensuren aller Goalies in der Liga. Eine andere Stütze ist der gleichaltrige Verteidiger Michael Heule, der vermeintlich aus dem Nichts aufgetaucht ist. Mit Stade Lausanne-Ouchy spielte er schon in der Super League, aber halt unter dem Radar. Jan Bamert (27), lange bei GC und Sion, fand sein Glück in Thun und Elmin Rastoder (24) wurde dank seiner Leistungen Nationalspieler von Nordmazedonien.
Der 31-jährige Bertone, zweifacher Meister mit YB und mit Auslanderfahrung (USA, Belgien) hält den Laden im Mittelfeld zusammen, vorne schiesst Christopher Ibayi (30) die Tore. Auf sieben Treffer in 13 Spielen kommt der Nationalstürmer des Kongo, den Thun vor einem knappen Jahr auf Korsika in der Ligue 2 in Ajaccio entdeckte.
Mauro Lustrinelli ist es gelungen, mit verhältnismässig bescheidenen Mitteln etwas aufzubauen. Nach dem Aufstieg gab es weniger Wechsel als anderswo, diese Eingespieltheit war vor allem zu Saisonbeginn ein Vorteil. Nun kommt das Selbstvertrauen hinzu – und noch eine Komponente, wie der Trainer verrät: «Wir haben Hunger. In uns lodert ein Feuer.» In Leicester brannte dieses vor zehn Jahren so lange, bis es mit einem kräftigen Gutsch aus dem Meisterpokal gelöscht wurde – und ein Märchen wahr wurde.
