Letzte Ausfahrt Pristina – auf zum gemeinsamen Fest
Das erste Werbeplakat am Flughafen «Adem Jashari» sticht ins Auge. Es soll Eintreffende abholen, im wahrsten Sinne. Und zeigt ein schönes Holzhaus von Schweizer Architekten mit ihrem gut sichtbaren Internetverweis. «So läuft das, irgendwie logisch», denkt man. Kosovo gilt nicht umsonst als 27. Kanton der Schweiz. Die Deutschen grüssen ja auch aus Mallorca.
Die Schweiz war eines der ersten Länder, das im Februar 2008 die Unabhängigkeit Kosovos anerkannte. Seither besteht eine Freundschaft. Wobei das – je nach (politischer) Sicht der Dinge – noch untertrieben ist, oder übertrieben. Doch nun wird am Dienstagabend diese Freundschaft in Pristina auf die Probe gestellt. Rein mathematisch kommt es zu einem Finalspiel, der Preis ist das Ticket für die WM im nächsten Jahr. Kosovo muss hierfür mit sechs Toren Differenz gewinnen. Ansonsten ist die Schweiz in jedem Fall am Turnier in den USA, Kanada und Mexiko dabei. Derweil hat der Gastgeber den Platz für die WM-Playoffs im nächsten März bereits sicher.
Ein Haarschnitt für fünf Euro und ein neuer Freund
Wie das so ist, wenn man in einem fremden Land ankommt, das gar nicht so fremd ist, weil Kosovo 2023 in der EM-Qualifikation schon einmal Gegner war. Und weil man in der Schweiz sehr viele Berührungspunkte mit kosovarischen Mitmenschen hat. Man geht, ganz opportun, zuerst einmal zum Coiffeur. Weltweit gibt es an solchen Orten ja immer Klatsch und Tratsch. Das erweitert den Horizont. Die Wahl fällt willkürlich aus, ist sie dank Google-Rezensionen aber nicht ganz. Die Note 4,9 ist ein guter Wert, wenn die Fünf das Maximum ist. Der Name «City Barber» tönt verheissungsvoll und international. Besitzer Astrit ist es nicht, er spricht nur wenig Englisch. Aber kein Deutsch, wenngleich er in Oldenburg geboren ist. Woraufhin die Familie bald einmal in die Heimat zurückkehrte.
Wie sollte ein männlicher Coiffeur aussehen? Nicht unbedingt wie der sympathische Astrit mit seinem «Expectation»-Pullover. So zumindest das Gefühl. Er trägt Bart und das Haar klassisch-kurz, ist 27 Jahre alt, Vater einer Tochter. Und Fussballfan. Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri gefallen ihm, stark findet er den kosovarischen Stürmer Vedat Muriqi. «Aber die Schweiz ist besser, nicht nur im Fussball», sagt er. «Sie ist sehr schön, sehr sauber.» Lugano hat er einst besucht, im Dezember geht es nach Basel. Ohne Grund, einfach für Ferien. Das Länderspiel schaut er sich am Dienstag zu Hause vor dem TV an.
Pristina ist keine Metropole, aber bei 230'000 Einwohnern eine Stadt, die noch nicht überkommerzialisiert ist. Und durchaus Charme besitzt. Besonders in der relativ neuen Fussgängerzone. Daneben wird es schnell einmal anders, dunkler, auch etwas rauer und vor allem lauter mit den vielen Autos. Mitunter mit Schweizer Kontrollschildern. Ab und zu staunt man über die baulichen Überbleibsel aus dem kommunistischen Regime Jugoslawiens.
«City Barber» ist ein Salon, wie man ihn sich vorstellt. Aber nicht so gesichtslos wie die unzähligen Shops in der Schweiz. Das Geschäft wirkt liebevoller eingerichtet, das Ambiente angenehm, Astrit ist ein zuvorkommender Gastgeber. An diesem Morgen ist sonst keine Kundschaft da, also kann er sich viel Zeit nehmen für den komplizierten Kunden aus der Fremde, der nach zwei Minuten nur noch «my friend» ist – und am Ende fünf Euro bar für klassisch-kurz zu entrichten hat. Kartenzahlung geht nicht, zehn Schweizer Franken sind die Lösung. «Wie siehst du das Verhältnis zu Serbien?» Astrit antwortet zurückhaltend: «Sehr schwierig. And you, my friend?» Die WM-Begegnungen in Russland und Katar tauchen in Gedanken auf.
Fadil Vokrri war einmal – nun gibt es wieder Hoffnung
Der Presseraum des Fadil-Vokrri-Stadions ist proppenvoll. Die Trutzburg bietet Platz für 14'000 Fans und huldigt der im Jahr 2018 früh verstorbenen kosovarischen Fussballlegende. 1987 wurde Fadil Vokrri zum besten jugoslawischen Spieler des Jahres gewählt, heute schickt sich eine neue Generation an, jetzt im eigenen Land für Furore zu sorgen. Sie könnte erstmals an einer WM-Endrunde teilnehmen.
Der kosovarische Verband hat seine Hausaufgaben gemacht, gerade für die Gäste aus der Schweiz. Und schickt deshalb Albian Hajdari ins PK-Rennen. Der Doppelbürger ist in Binningen geboren, wuchs in der Region Basel auf. Er absolvierte viele Länderspiele mit Schweizer Nachwuchsauswahlen und sogar einen Test mit der A-Nati. Ehe der Hoffenheim-Verteidiger sich kürzlich – wie Leon Avdullahu – für das Land der Eltern entschied. Und nun konsequent auf kosovo-albanisch antwortet.
Hajdari ist es egal, wie andere den Nationenwechsel beurteilen. «Jeder Spieler kann sich entscheiden, wie er will und woran er glaubt. Aber ich freue mich sehr, wenn nochmals jemand meinen Weg nimmt.» Es werde für ihn speziell sein in dieser wichtigen Partie, vor den Augen seiner Familie. Wie sieht der 22-Jährige heute die Beziehung zwischen den beiden Nationen? «Sie ist weiterhin sehr schön», sagt er. Besonders, weil wir wissen, wie gut uns Granit Xhaka, Xherdan Shaqiri und Valon Behrami mit der Schweiz repräsentiert haben. Und weilviele von uns in der Schweiz gut leben.»
Laut statistischen Erhebungen gehören etwa 250'000 Menschen zur kosovarischen Diaspora in der Schweiz. Hier sind sie Angekommene, sie tragen wie Granit Xhaka nicht selten zwei Herzen in ihrer Brust. Dessen 142 Länderspiele machen die Kosovaren stolz, der Nati-Captain ist wie ein Werbeträger. Nur sehen sie sich im Fussball heute nicht mehr als die Kleinen, weshalb man auf weitere Hajdaris hofft.
In Kosovo ist Franco Foda ein Angekommener, der einstige FCZ-Trainer hat mit seiner Mannschaft und den jüngsten Erfolgen eine Euphorie entfacht. An ein Fussballwunder glaubt er nicht mehr, aber er will das 0:4 zum Auftakt in die WM-Qualifikation korrigieren und die seither positive Serie weiterziehen. «In der Schweiz haben wir nicht unser wahres Gesicht gezeigt. Realistischerweise ist es gegen eine Mannschaft in dieser starken Verfassung aber unmöglich, ein 0:6 aufzuholen.»
Vermutlich steht Foda stellvertretend für alle, die sich in Kosovo aufhalten. Der Deutsche fühlt sich wohl hier, die Leute sind herzlich, das Essen gut, die Liebe zur Familie geht über alles. Und die Menschen, besonders die Männer, sind fussballverrückt. Die Unterstützung des Nationalteams ist jedenfalls gewaltig, auswärts wie zu Hause. «Unser Stadion wird gegen die Schweiz brennen», sagt Foda.
Shkodran: «Es wäre ganz heiss geworden»
Shkodran lautet der Vorname jenes jüngeren Mannes, der das Amt «Länderspiel-Organisator» bekleidet. Er fühlt sich deswegen gerade als wichtigste Person im ganzen Betrieb und sagt, er liebe die ruhige, gemütliche Schweiz. Sie sei wie sein Kosovo ein kleines Land. «Hätte die Schweiz gegen Schweden zuletzt jedoch Punkte verloren, würden wir hundertprozentig diesen Final gewinnen. Es wäre ganz heiss geworden, wir sind im Moment sackstark.»
Am Dienstagabend soll es in Pristina richtig kalt werden und regnen. Astrit wartet noch immer auf eine Google-Bewertung. Sie wird kommen. Doch zuerst muss die Schweiz auf ihrer letzten Ausfahrt alles richtig machen im Bruderduell. Es ist angerichtet. Für ein gemeinsames Fest. (aargauerzeitung.ch)
