Murat Yakin hat ein wunderbar ansteckendes Lächeln. Wenn er ins Erzählen gerät, dann hat er die Gabe, den Raum einzunehmen, die Leute zu unterhalten. Und er scheut nicht davor zurück, auch einmal sich selbst auf die Schippe zu nehmen.
Ein Beispiel? Kürzlich erzählt er auf einer Bühne in Basel, wie er seiner Frau Anja zum Geburtstag eine Karte schrieb – mit der Hilfe von ChatGPT, «das ist natürlich aufgefallen, schliesslich war es ja die erste Karte seit 30 Jahren». Oder, als er mit der Schweiz gerade die WM-Qualifikation geschafft hat, im November 2021 ist das, nach vier Monaten als Nationaltrainer. «Ich habe in meinem Leben noch kein einziges Buch gelesen. Bücher, nein, das geht einfach nicht.»
Am späten Sonntagabend in St.Gallen ist Yakin weit entfernt von herzhaftem Lachen. Das 3:3 gegen den krassen Aussenseiter Belarus wiegt schwer auf seinen Schultern. Jetzt zeigt Yakin seine andere Seite, jene des ratlosen Trainers. Zunächst im TV: «Gegen einen solchen Gegner muss man die Defensive nicht vorbereiten.» Ja, er sagt das tatsächlich so. Später, an der Medienkonferenz gelingt ihm der Satz: «Solange wir die EM-Qualifikation in den eigenen Händen haben, sind wir auf dem richtigen Weg.»
Es sind Worte, die einen ratlos zurücklassen. In jedem der drei letzten Länderspiel-Fenster musste die Nati eine herbe Enttäuschung einstecken. Das 2:2 gegen Rumänien? Konnte man mit etwas Goodwill als Betriebsunfall abtun. Schliesslich hätte es vor den beiden Gegentoren ganz zum Schluss auch 5:0 stehen können. Das 2:2 im Kosovo? Wieder ein Gegentor in der Nachspielzeit. Doch diesmal mit viel Feuer verbunden. Weil Captain Xhaka heftige Worte wählt und damit Trainer Yakin frontal angreift.
Das 3:3 nun gegen Belarus grenzt zwischenzeitlich an Arbeitsverweigerung. Manchmal wirkt es, als wollten die Spieler suggerieren: Wir sehen keine Zukunft mehr mit Yakin als Nationaltrainer. Als Yakin mit einem Hauch von Resignation im Gesicht vor den Medien sitzt, stellt CH Media diese Frage: Hat er selbst das Gefühl, dass nun sein Job als Trainer in Gefahr ist? «Es ist nicht meine Aufgabe, das zu beurteilen», sagt Yakin. Und weiter: «Ich sehe die Mannschaft täglich und mit welcher Freude sie spielt. Das ist das einzige, was für mich zählt.»
Wer die Voten der Spieler unter die Lupe nimmt, bekommt ein anderes Bild. Xherdan Shaqiri sagt: «Wir haben wieder gesehen, dass nicht alles stimmt.» Ähnlich hat er sich schon nach den letzten Rückschlägen geäussert, von einem «Weckruf» noch dazu. Fragt sich einfach, wie viele Weckrufe es noch braucht. Manuel Akanji kommt zur Feststellung: «Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da war es sehr schwierig, gegen uns Tore zu erzielen.» Es ist eine gefühlte Ewigkeit her.
Die Schweizer Nati ist in eine Krise geschlittert. So sehr, dass die sicher geglaubte EM-Qualifikation plötzlich doch noch in Gefahr geraten könnte. Das ist eine ziemliche Leistung in dieser biederen Gruppe, wo sich der Erste und Zweite direkt qualifiziert und die Schweiz als Dritte sogar noch die Barrage bestreiten dürfte.
Aber darum geht nicht einmal in erster Linie. Sorgen bereitet die Entwicklung dieser Nati ganz grundsätzlich. Seit der WM ist das schon so. Die Siege im März gegen Belarus (5:0) und Israel (3:0) haben jene Stimmen zum Verstummen gebracht, die sich sorgten, dass das monumentale 1:6 im WM-Achtelfinal gegen Portugal zu wenig aufgearbeitet wurde. Doch nun werden die Risse immer deutlicher erkennbar.
Die Gretchenfrage lautet darum: Wie weiter mit Murat Yakin? Dass er für die Misere die grösste Verantwortung trägt, steht ausser Frage. Schliesslich ist er der Nationaltrainer. Und dieser Nationaltrainer musste zuletzt mit anschauen, wie seine (im Vergleich zur Konkurrenz in der Gruppe) hoch veranlagte Equipe von einem Schlamassel zum nächsten schlingerte. So, dass man zum Fazit kommen muss: Eigentlich gar nicht möglich für ein Team mit solchen Namen.
Eine Negativ-Spirale wie diese gab es in all den Jahren unter Ottmar Hitzfeld und Vladimir Petkovic nie. Gerade unter Petkovic pflegten die Schweizer Pflichtaufgaben wie sie Spiele gegen Rumänien, Kosovo oder Belarus eben sind, souverän zu erledigen.
Nur: Welche konkreten Vorwürfe könnte man Yakin machen? Personell? Taktisch? Da bietet er wenig bis keine Angriffsfläche. Kommt dazu: Nie hat sich Yakin in den letzten Wochen über Absenzen beklagt. Alleine gestern fehlen mit Widmer, Embolo, Elvedi, Okafor und Vargas fünf potenzielle Stammspieler.
Die Spieler selbst sind darum zwingend auch in die Verantwortung einzubeziehen. Man fragt sich: Woher kommt die plötzliche Überheblichkeit? Warum gelingt es nicht, die nötige Seriosität und Ernsthaftigkeit auf den Platz zu bringen? Liegt es wirklich einzig und alleine daran, dass die bisherigen Aufgaben in der EM-Qualifikation einer Strafaufgabe glichen? Spätestens im November muss sich das ändern. Dann ist die Schweiz erstmals in dieser EM-Qualifikation wirklich unter Druck.
Besonders gefordert ist nun Nati-Direktor Pierluigi Tami. Er ist es, der den Weg in den kommenden Wochen vorgibt. Klar ist: Er tut gut daran, den Blick von der Aktualität zu lösen und das grosse Bild zu betrachten. Nur weil die Schweiz weiterhin eine gute Chance besitzt, zum sechsten Mal in Serie an ein grosses Turnier zu kommen, heisst das eben nicht, dass alles gut ist.
Wenn Tami seinen Job richtig macht, muss er die Entwicklungen rund um das Team spüren. Im Zentrum steht die Frage, ob die Nati am «Hansi-Flick-Syndrom» leidet. Flick ist als Deutscher Nationaltrainer nach einer Negativphase, die jener der Schweiz ähnelt, gescheitert und durch Julian Nagelsmann ersetzt worden. Tami muss die Frage beantworten, ob die Abwärtstendenz aufzuhalten ist. Oder ob die EM 2024 in Gefahr ist. Nicht die Qualifikation dafür, sondern das Turnier selbst.
Es gäbe durchaus Gründe, die einen sofortigen Trainerwechsel erklären würden. Man kann jedenfalls zum Schluss kommen, dass die Gelegenheit für einen Wechsel jetzt günstiger wäre als nach einer mutmasslich doch noch gelungenen EM-Qualifikation.
Die entscheidende Frage dabei ist: Wie steht es um Yakins Rückhalt in der Garderobe? Sind die Führungsspieler bereit, im November auch für Yakin zu kämpfen und an den eigenen Stolz zu appellieren? Oder wollen sie lieber einen raschen Neuanfang? Mit Lucien Favre oder sonst jemandem. Es gibt zumindest Anzeichen für letzteres. Es gibt bereits Stimmen, die sagen, Yakin habe den Kampf verloren.
Dass ein Trainer kommunikativ nach einer Blamage wie in St.Gallen nicht brilliert, ist nachvollziehbar. Wie aber tritt Yakin in der Kabine auf? Ringt er sich zu einer Tirade durch? Besticht er durch Scharfsinn? Oder beschränkt er sich so sehr auf Ausflüchte wie vor Kameras und Mikrofonen?
Trotzdem: Eine solch einschneidende Massnahme wie eine Trainer-Entlassung vor entscheidenden Spielen (15.11. in Israel, 18.11. gegen Kosovo, 21.11. in Rumänien) wäre kühn, braucht viel Mut. Und ist auch mit viel Risiko verbunden. Würde Nati-Direktor Tami diesen Mut aufbringen? Fragezeichen wären angebracht.
Noch immer ist es möglich, dass die Resultate im November wieder stimmen. Dass sich Spieler und Trainer zusammenraufen. Und dass sich Yakins Vertrag darum bis zur Endrunde in Deutschland verlängert. Wobei dann Tami und Co. vor einer wohl noch schwierigeren Aufgabe stehen. Sie müssten noch vor dem Turnier in Deutschland festlegen, wie es nach der EM in der WM-Qualifikation 2026 weitergehen soll. Yakins Karten dafür standen schon besser. Nur: Sollten Tami und der Verband zum Schluss kommen, ohne Yakin in die Zukunft zu gehen, wäre eine vorzeitige Trennung bereits vor der EM das einzig richtige.
Hat Murat Yakin bereits verloren? Wir wissen es nicht. Aber er steht mit Bestimmtheit vor seinen wichtigsten und schwierigsten Wochen als Nationaltrainer. Für den Moment kann er sich zumindest an einer Statistik festhalten: Im Gegensatz zum Klubfussball sind in der Schweiz Trainerentlassungen auf Verbandsebene sehr selten. Letztmals wurde vor 26 Jahren ein Nati-Trainer entlassen, Rolf Fringer war das, 1997. Seither hatten neue Trainer stets andere Gründe.
Und eines ist auch noch immer gewiss: Die künstliche Intelligenz kann zwar Geburtstagskarten schreiben. Aber in seiner Arbeit hilft KI dem Nationaltrainer nicht.
Er hat z.B. die Defensive nicht trainieren lassen und dann 3 Tore gegen einen Aussenseiter kassiert.
Ja, dieser Meinung bin ich auch. Wenn Trainerwechsel, dann so schnell wie möglich.