Letzte Woche ist die Fussball-Welt mal wieder aufgeschreckt – als bekannt wurde, dass der ehemalige englische Nationalspieler Aaron Lennon mit psychischen Problemen zwangseingewiesen wurde. Der 30-jährige Everton-Profi wurde von Polizisten an einer viel befahrenen Strasse aufgegriffen und nach einem 20-minütigen Gespräch in ein Spital gebracht. Die Beamten sahen Lennon in einer «prekären Situation» und lieferten diesen daraufhin «in Sorge um sein Wohlergehen» ein.
Thank you for all the kind messages for Aaron. We are supporting him through this and his family has appealed for privacy at this time.
— Everton (@Everton) 3. Mai 2017
Weitere Details zum Vorfall wurden aus Respekt vor Lennons Privatsphäre nicht veröffentlicht. Der FC Everton bestätigte aber, dass Lennon sich wegen einer «stressbedingten Krankheit» in Behandlung befinde. Seit dem 11. Februar hatte der Rechtsaussen kein Spiel mehr für die «Toffees» bestritten. Zunächst hiess es, er leide an einem grippalen Infekt. Anfang April erklärte Trainer Ronald Koeman schliesslich, dass Lennon derzeit «physisch» nicht in der Lage sei, «Teil des Teams zu sein».
Der Schock in der englischen Öffentlichkeit sitzt auch eine Woche nach dem Vorfall noch tief. Eine psychische Krankheit kommt noch immer einer Stigmatisierung gleich und steht zu allererst für Schwäche. Vor allem im Sport. Dass ein Fussballer psychisch erkranken kann, ist für viele offenbar noch immer nicht so leicht nachvollziehbar.
Doch Fakt ist, dass Fussballer deutlich häufiger an psychischen Problemen leiden als der Durchschnitt der Bevölkerung. In einer Studie der Profifussballer-Vereinigung «Fifpro» aus dem Herbst 2015 gaben 37 Prozent der befragten Fussballer an, an Depressionen oder Angstzuständen zu leiden. Vergleichbare Studien zeigen, dass durchschnittlich 14 bis 17 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
Die Liste der bekannten Betroffenen ist lang, die Dunkelziffer wohl enorm. Ivan Ergic war 2003 einer der ersten, der öffentlich zu seiner Krankheit stand. Der Basler Mittelfeldspieler litt erst an Leistenproblemen, dann am Pfeiffer'schen Drüsenfieber und schliesslich an einer Depression.
Statt zurück zu Juventus Turin, das ihn an Basel ausgeliehen hat und nach starken Leistungen zurück wollte, ging der damals 22-Jährige in stationäre Behandlung in der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel. «Ich dachte, die Schmerzen seien physisch bedingt. Ich wusste nicht, dass sich mentale Beschwerden auch auf den Körper auswirken können. Ich war am Tiefpunkt», erklärte er vier Jahre später der WOZ.
Der FC Basel hielt zu ihm, verlängerte gar seinen Vertrag. Die meisten Mitspieler wussten allerdings nicht, wie sie reagieren sollten. «Es war die allgemeine Meinung, dass dies einem Sportler nicht passieren kann. Ich wollte dann dieses Tabu brechen und ging offensiv mit meiner Krankheit um. Man ist ja kein Aussätziger, weil man depressiv ist. Das kann jedem passieren», so Ergic.
Ergic und Lennon sind alles andere als Einzelfälle. Fast gleichzeitig mit Ergic «outeten» sich Bayern Münchens Supertalent Sebastian Deisler und Skisprung-Olympiasieger Sven Hannawald und beendeten später vorzeitig ihre Karriere. 2009 nahm sich der deutsche Nationaltorhüter Robert Enke nach langer Leidenszeit das Leben, 2011 löste der heutige RB-Leipzig-Sportdirektor und damalige Schalke-Trainer Ralf Rangnick seinen Vertrag wegen eines Burnout-Syndroms auf.
Nur zwei Monate später unternahm der deutsche Bundesliga-Schiedsrichter Babak Rafati kurz vor Spielbeginn einen Selbstmordversuch. Zehn Tage danach wurde der walisische Nationaltrainer Gary Speed tot aufgefunden. Die Diagnose: Suizid.
Aber warum sind Sportler und insbesondere Fussballer so häufig von psychischen Krankheiten betroffen? Natürlich können die einzelnen Fälle nicht miteinander verglichen werden, dafür sind sie zu individuell. Eine Depression kann viele Ursachen haben.
Erklärungsversuche gibt es dennoch. «Zunächst einmal sind Fussballspieler, genau wie alle anderen Menschen, verschiedensten Stressfaktoren ausgesetzt, die psychische Erkrankungen herbeiführen können. Aber Profifussballer sind vielen zusätzlichen Faktoren ausgesetzt», erklärte Dr. Vincent Gouttebarge, Leiter der Fifpro-Studie, 2015 der NZZ.
Dem grossen Konkurrenzkampf innerhalb des Teams, den hohen Erwartungen der Öffentlichkeit, dem ständigen Leistungsdruck von aussen und von sich selbst und nicht zuletzt der Angst vor Verletzungen. Das Fussball-Geschäft ist extrem schnelllebig und fast jeder ist ersetzbar. Wer seine Leistung nicht mehr bringen kann, beginnt an sich zu zweifeln und kann schnell in einen Teufelskreis geraten. Weg vom Team sind die Fussballer oft auf sich alleine gestellt.
Durch die sozialen Medien hat die Belastung weiter zugenommen. Die Fussballer geben immer tiefere Einblicke in ihre Privatsphäre und erhalten ungefiltert Rückmeldung. «Die Spieler loggen sich dort ein und sehen alle möglichen Kommentare», gibt der ehemalige Liverpool-Verteidiger Jamie Carragher nach dem Fall Lennon in seiner Kolumne für die «Daily Mail» zu Bedenken. «Auch deshalb wird der Druck auf sie immer schlimmer.»
Er habe die Angst vor dem Versagen mit in jedes Spiel genommen. «Ich habe mich selbst einem enormen Druck ausgesetzt.» Schliesslich habe er einen Psychologen ausserhalb der Liverpool-Blase aufgesucht. Sein Leben als Profifussballer konnte er trotzdem nie geniessen: «In meinem Fall würde ich sagen, ich habe es ertragen.»
Es sind bemerkenswerte Aussagen, die da aus dem Umfeld kommen, das die Öffentlichkeit doch vor allem mit fetten Sportwagen, heissen Models und Nachmittagen vor der Playstation in Verbindung bringt. Und Carragher ist nicht allein.
Auch die ManUnited-Legende Ryan Giggs gab nach Bekanntwerden von Lennons Krankheit an, seine Spiele nie wirklich genossen zu haben. Mit dem Druck, der auf ihm lastete, sei er nie richtig zurecht gekommen, erzählte er dem «Telegraph». «Ich weiss, dass diejenigen ausserhalb des Fussball-Geschäfts jetzt auf unsere Gehälter verweisen und auf das Leben, das wir führen. Bis zu einem gewissen Punkt beschützt uns das vor den Schwierigkeiten, mit denen andere zu kämpfen haben. Aber es macht uns nicht dagegen resistent.»
Fussballer – so wird manch einem wieder einmal bewusst – sind auch nur Menschen. Aber so richtig begriffen haben das im Fussball-Metier immer noch nicht alle. Spielergewerkschaften bieten mittlerweile zwar Hilfe an – unter anderem gibt es die Möglichkeit einer anonymen telefonischen Erstberatung – aber in den Bereichen Prävention und Betreuung gibt es noch grosse Defizite. Auch herrscht im Fussball-Business Uneinigkeit, wie mit dem Thema umzugehen sei.
«Hört auf, darüber zu sprechen und hört auf, darüber Fragen zu stellen», fordert beispielsweise Liverpool-Trainer Jürgen Klopp. «Wir sollten solche Dinge so privat wie möglich halten und den Leuten ihre Privatsphäre gönnen. Wenn man kein Fussballspieler ist, hat man grosse Vorteile. Niemand fragt nach, wenn man sich nicht wohl fühlt, darum ist die Rückkehr ins normale Leben viel einfacher.» Stoke-Trainer Mark Hughes hält dagegen, dass die mentalen Probleme der Leistungssportler durchaus öffentlich angesprochen werden sollten.
Paradoxerweise haben wohl beide Recht: Wird nicht über das Thema gesprochen, passiert nichts. Wird zu viel darüber gesprochen, haben die Fussballer Angst sich zu outen. Denn an einer psychischen Krankheit zu leiden, das ist in der Leistungsgesellschaft des Fussballs nach wie vor ein Tabu.
Wie sehr dieses Tabu immer noch existiert, zeigte der englische Ex-Nationalspieler Rio Ferdinand erst kürzlich in einer eindrücklichen BBC-Doku auf: «Kollegen, die ihre Gefühle zeigten, waren für mich immer Schwächlinge. Wenn ich so etwas in der Kabine bemerkte, verlor ich den Respekt. Ich hasste das.»
Ferdinand lebte in seiner Fussballer-Blase – bis 2015 seine Frau an Krebs starb. Plötzlich war er selber einer von denen, die Mitgefühl benötigten. Und er war einer jener, die Hilfe benötigten.
Ferdinand brauchte lange, um seine Trauer öffentlich zu machen und sich professionelle Hilfe zu holen, wie er in der Doku eingestand. Doch erst das brachte ihn zurück ins richtige Leben.