Dann macht er es wie ein echter Torjäger. Gleich zweimal. Gegen England nimmt Mateo Retegui das Zuspiel an und schiesst mit dem zweiten Kontakt eiskalt ins lange Eck. Gegen Malta schraubt er sich in die Höhe und köpft den Ball wuchtig an die Unterkante der Latte. In seinen ersten beiden Länderspielen hat Retegui jeweils ein Tor erzielt – für Italien.
Dabei ist der 23-jährige Stürmer ein gebürtiger Argentinier, spielte bisher ausschliesslich für argentinische Klubs und war womöglich zuvor noch nie in der südeuropäischen Heimat seiner Grosseltern. Diese wanderten aus Sizilien nach Südamerika aus und sind der Grund, weshalb Retegui für die «Squadra Azzurra» auflaufen darf. Doch dass Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini überhaupt über den grossen Teich schauen muss, um einen Stürmer zu finden, hat einen anderen Grund. Italien hat ein grosses Stürmerproblem.
In der heimischen Serie A ist der beste italienische Stürmer Ciro Immobile auf Platz 9 der Torschützenliste zu finden. Der Profi von Lazio Rom fehlte aber vor kurzem noch verletzt und wurde für die ersten beiden Spiele der EM-Qualifikation nicht nominiert. Seine Ausbeute von 15 Toren in 55 Länderspielen ist zudem nicht mit seiner Trefferquote in der Liga zu vergleichen. Die nächsten hauseigenen Mittelstürmer in der Liste sind Manolo Gabbiadini von Sampdoria (6 Tore), Daniel Ciofani von Cremonese und Moise Kean von Juventus (je 5 Tore).
Und auch in den weiteren Topligen fehlt es an italienischen Goalgettern. Zwar steht in der Bundesliga mit Vincenzo Grifo (12 Tore) ein Italiener auf dem zweiten Platz der Torschützenliste, doch spielt der 29-Jährige vom SC Freiburg auf dem linken Flügel. Gianluca Scamacca von West Ham kommt in 16 Premier-League-Spielen auf drei Tore. Kein Wunder spricht Mancini von einem «ernsten Problem in der Spitze». Und so setzte der Europameister-Coach von 2021 auf Retegui. Was nicht allen zu gefallen schien.
Mario Balotelli meldete sich am Samstag in seiner Instagram-Story zu Wort. «Es gibt immer noch Stürmer in Italien und sie sind in Form. Glauben Sie mir», schrieb der Stürmer des FC Sion. Es darf als Affront in Richtung Mancini gewertet werden. Wen Balotelli damit meint, ist unklar. Der 32-Jährige erzielte in der Super League in bisher 14 Partien fünf Tore. Die Aussage Balotellis dürfte Mancini somit nur bedingt beirren, wobei dieser selbst sagte: «Vor einigen Jahren dachte ich, dass nur gebürtige Italiener für das Nationalteam spielen sollten, aber da hatten wir noch nicht solche Probleme. Ausserdem hat sich die Welt verändert.»
Dass Mancini sich vom Profi der Boca Juniors, der momentan an Atletico Tigre ausgeliehen ist, viel erhofft, machte der 58-Jährige schon kurz nach der Nomination klar: «Er erinnert mich an Gabriel Batistuta, als dieser erstmals nach Italien kam.» Der argentinische Stürmer erzielte in der Serie A insgesamt 183 Tore, wurde einmal Torschützenkönig und schoss die AS Roma in der Saison 2000/01 zum Meistertitel. Mancini hat die Latte für Retegui also schon mal hoch gelegt.
Dass dieser wirklich so gut ist, scheint angesichts der Tatsache, dass er mit 23 immer noch in Argentinien spielt und dort noch nie für das Nationalteam nominiert wurde, unwahrscheinlich. Für seinen aktuellen Klub kann Retegui aber eine starke Ausbeute von 25 Toren in 35 Ligaspielen seit dem letzten Juni vorweisen. Nach seinem ersten Länderspieltor freute er sich zwar über die Premiere, sagte aber auch: «Ich bin unglücklich, weil wir ein wichtiges Spiel verloren haben.» Zudem schien Retegui gegen England ansonsten vom Niveau eher überfordert. Mit seinem zweiten Treffer für Italien leitete er dann immerhin den ersten Sieg in der EM-Qualifikation ein. Ein Erfolg, auch wenn der Gegner Malta hiess.
Trotz der beiden Treffer sind dem 1,86-Meter-grossen Retegui weitere Einsätze im Nationalteam keinesfalls zugesichert. Mancini setzt so viele Spieler ein wie kaum ein anderer Trainer und experimentiert viel herum. In den letzten zehn Länderspielen waren es mit Retegui fünf Stürmer, welche auf der einzigen Position in der Spitze auflaufen durften. Der gebürtige Argentinier hat aber zwei gute Argumente geliefert, weiterhin zum italienischen Kader zu gehören. Weitere Tore in Italien dürften ohnehin folgen – seit seinem Debüt für die «Azzurri» wird er mit Inter Mailand in Verbindung gebracht.