«Das war ja wieder typisch.»
So oder so ähnlich dürften am Samstagnachmittag viele Fans von Borussia Dortmund gedacht haben. Und zwar nicht nur in Bezug auf ihren Herzensverein, sondern auch mit Blick auf Emre Can, der bei der 1:3-Niederlage in Mainz in der 27. Minute vom Platz flog.
Wieder einmal folgte beim BVB auf ein starkes Spiel ein unterirdisches. Nach dem 2:1-Sieg gegen das in der Liga bis dahin ungeschlagene Leipzig und dem 1:0-Arbeitssieg in der Champions League gegen Sturm Graz kam der Aufprall in der Realität. Auf ein Hoch folgt ein Tief. Für die Dortmunder wie für ihren Captain.
Emre Can hatte zuletzt drei starke Spiele gezeigt, der Wechsel aus dem Mittelfeld in die Innenverteidigung schien ihm gutzutun. In Abwesenheit der verletzten Waldemar Anton und Niklas Süle machte Can einen guten Job, zeigte sich zweikampfstark und leistete sich kaum Fehler. Es war eine starke Reaktion auf zuvor nicht immer sattelfeste Auftritte, infolge derer er in den sozialen Medien einmal mehr mit teilweise überzogener Kritik und vor allem Hasskommentaren eingedeckt wurde.
Nach dem Sieg gegen Leipzig in der Vorwoche erklärte Can in Bezug auf seine gute Leistung: «Wenn ich ehrlich sein darf, das ist Balsam für die Seele. Ich bin auch nur ein Mensch. Es ist nicht schön, Kritik zu bekommen.» Der 30-jährige Mittelfeldspieler betonte, Fehler gemacht zu haben und Kritik zu akzeptieren, doch: «Wenn es unter die Gürtellinie geht, dann tut das nicht gut.» Auch Trainer Nuri Sahin verteidigte Can: «Was auf ihn einprasselt, ist nicht normal.» Deshalb freue ihn die Steigerung des 48-fachen deutschen Nationalspielers besonders. Plötzlich war Can in Topform, genoss die Rückendeckung des Trainers, aber auch von vielen Fans – auf ein Tief folgte ein Hoch.
Dann kam die dumme Rote Karte in Mainz. Am rechten Strafraumrand trat er Jae-sung Lee mit offener Sohle um. Zu zehnt hatten seine Teamkollegen nur auf das erste Mainzer Tor eine Antwort, am Ende unterlagen sie 1:3. Dieses Mal kam die (berechtigte) Kritik auch aus dem Team. «Ich glaube, er weiss selbst, dass er da ein bisschen vorsichtiger sein muss», sagte Julian Brandt. Trainer Sahin stellte klar: «Emre darf da nicht so hingehen, das weiss er auch.»
Es passt zu Cans Karriere beim BVB, seit er im Januar 2020 von Juventus Turin in den Ruhrpott wechselte. Der defensive Mittelfeldspieler wurde als Abräumer und Leader verpflichtet, der sich auch im Spielaufbau einbringen kann. In seinen guten Phasen ist er genau das, beispielsweise war er auch in der Beinahe-Meister-Saison 2022/23 eine tragende Säule im Mittelfeld. Doch es mischen sich eben auch immer wieder folgenschwere Ballverluste oder Fehlpässe, die zu Gegentoren führen, oder ungestüme Aktionen wie das Foul in Mainz dazwischen. Genie und Wahnsinn – oder eben Höhen und Tiefen – sind bei Can sehr nahe beieinander.
Und damit steht er auch sinnbildlich für Borussia Dortmund, wo diese Inkonstanz in den Leistungen schon seit Jahren eine Konstante ist. Daran konnte bisher auch der Trainerwechsel im Sommer von Edin Terzic zu Nuri Sahin nichts ändern. Ebenso wenig wie die sechs vorherigen Wechsel an der Seitenlinie, seit sich Thomas Tuchel zum Ende der Saison 2016/17 mit der Vereinsführung um Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke zerstritten hat.
In Mainz setzte sich ausserdem die Serie der eklatanten Auswärtsschwäche fort. Während Dortmund in dieser Saison im eigenen Stadion wettbewerbsübergreifend in sieben Spielen ohne Punktverlust ist und die Heimtabelle der Bundesliga anführt, erlitt es auswärts nun die sechste Pleite in Serie. In der Liga holte der BVB in fünf Spielen erst einen Punkt und ist in der Auswärtstabelle auf Platz 16. Zu Hause Meister, in der Fremde Abstiegskandidat.
In Teilen kann diese Diskrepanz mit der Festung Westfalenstadion erklärt werden. Doch wie unterschiedlich der BVB in Heim- und Auswärtsspielen auftritt, ist aus Sicht des Klubs fast schon verängstigend. In fremden Stadien lassen die Dortmunder jegliches Selbstbewusstsein vermissen, wirken verunsichert und machen immer wieder Fehler. Am Samstag schimpfte Julian Brandt: «Ich habe keinen Bock mehr darauf, aus irgendwelchen Städten mit Niederlagen nach Hause zu fahren. Das geht mir auf den Sack.»
Natürlich wird nun auch Trainer Sahin infrage gestellt – da hilft ihm die prekäre personelle Situation mit den vielen verletzten Stammkräften nur bedingt. Von den Verantwortlichen um Watzke, Geschäftsführer Lars Ricken und Sportdirektor Sebastian Kehl bekommt er noch Rückendeckung. Und zumindest gewisse Parameter geben Sahin recht. An Spielkontrolle mangelt es dem BVB eigentlich nicht. Die erste Halbzeit in Madrid, in der Dortmund gegen Real deutlich besser war und 2:0 führte, zeigte zudem, wozu das Team fähig ist.
Jedoch schafft es der achtfache Meister – teilweise auch in Heimspielen – immer noch nicht, aus dem Ballbesitz zwingende Chancen herauszuspielen. Zudem ist er nach wie vor viel zu anfällig auf Konter. In Mainz kam Dortmund selbst vor Cans Platzverweis in 27 Minuten zu keinem einzigen Torschuss. Sahin, für den der BVB die erste Station als Cheftrainer ist, ist aufgrund miserabler Auftritte wie diesem angezählt. Solange Dortmund in der Bundesliga am für die Champions League berechtigenden Platz 4 dran ist und in der Königsklasse zu den Top 8 gehört, behalte er seinen Job, hiess es gemäss «Bild» von den Führungspersonen.
Bis nach der Länderspielpause muss Sahin es nun aber hinkriegen, dass sein Team die Leistungen aus dem Westfalenstadion auch auswärts zeigen kann. Geht es in Dortmund nach dem üblichen Rhythmus der letzten Jahre, dürfte auf das aktuelle Tief wieder ein Hoch folgen. Dann muss der BVB den Zyklus aber endlich durchbrechen. Ansonsten wird es schwierig, die Saisonziele nicht zu gefährden. In diesem Fall stünde dann wohl der nächste Neuanfang mit Trainer Nummer 8 seit 2017 an.