Lasst uns aus der Demütigung ein Zeichen der Auserwähltheit machen. Die diplomatische Behandlung durch Australien von Novak Djokovic – der in Melbourne in einem Hotel unter Hausarrest steht, das vom serbischen Präsidenten Alexandar Vucic als «nichtswürdig» bezeichnet wurde – wird in Serbien zweifellos ein Gefühl der Verfolgung nähren. Ein Gefühl, das verbunden ist mit einem Ausnahmestatus, beispielsweise als «himmlisches Volk» – ein Mystizismus, der sich der Serbisch-Orthodoxen Kirche verdankt.
Gequält, unglücklich, missverstanden, verraten – so sieht sich ein Teil des serbischen Volkes, dessen Traum von Großserbien während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren an den Klippen der westlichen Geopolitik zerschellt ist. Unglücklich auf Erden, aber der Himmel ist mit uns, alles in allem.
Der Himmel oder die Natur hat die Serben mit einem speziellen Gen, dem «serbischen Gen», ausgestattet, das sie widerstandsfähiger gegen das Coronavirus macht. Dies behauptete diesen November zumindest der Lungenspezialist und Allergologe Branimir Nestorovic, ein Freund von Novak Djokovic, in einer Fernsehsendung.
Die Überzeugung, vom Allmächtigen geführt zu werden, sprach aus den ersten öffentlichen Erklärungen des Champions, die er in seiner australischen Zwangsbleibe abgab und die von seinem Bruder Djordje bei einer Veranstaltung am Donnerstag in Belgrad vorgetragen wurden: «Gott sieht alles. Moral und Ethik, die höchsten Ideale, sind Sterne, die in Richtung des spirituellen Aufstiegs leuchten. Meine Gnade ist spirituell und ihre (jene der Australier, Anm. d. Red.) ist materieller Reichtum.»
In Melbourne durchlebe Novak eine Prüfung, die einer Ungerechtigkeit gleichkomme. Aus dieser Situation werde er noch stärker hervorgehen. Die grossspurige Reaktion von Srdjan Djokovic, Vater des Weltranglistenersten, die von der serbischen Website Telegraf zitiert wurde, zeigt diese Neigung zu einem – wie man sagen könnte – «Opfer-Triumphalismus»:
Seinen Nachwuchs beschrieb er als «Symbol und Führer der freien Welt, der Welt der armen und unterdrückten Nationen und Völker» und brachte ihn mit Spartacus in Verbindung, dem Anführer des Sklavenaufstands im alten Rom.
Als Impfgegner (daher seine Probleme in Australien) und Anhänger der Alternativmedizin sei der Serbe Novak Djokovic eine Speerspitze des Widerstands der Unterschicht – zum einen gegen Big Pharma, diese grosse Fabrik der «Lüge», zum andern gegen die amerikanisch-europäische Diplomatie, die sein Land zu einem Puzzleteil ohne Meeresanstoss beschnitten und ihm das genommen hat, was den Serben als ihre historische Wiege gilt: das Kosovo. Diese mehrheitlich albanischsprachige Provinz, in der noch immer Serben leben, ist die Heimat der Familie Djokovic. Das zeigt, wie viel auf Novaks Superheldenschultern lastet.
Auf Facebook wird er auf der Seite «Serbisches Kosovo» geehrt: «Novak Djokovic wurde es gerade VERBOTEN, in Australien einzureisen, und er wird abgeschoben. Als Inhaber all deiner Tennistitel hast du gerade den bislang besten gewonnen. Du hast soeben den Titel ‹FREIER Mann› erhalten. Schliesslich war das die EINZIGE Möglichkeit, dich daran zu hindern, noch einmal zu gewinnen. WIR LIEBEN DICH, NOLE (sein Spitzname, Anm. d. Red.)!»
Aber wo ist Novak Djokovic, der 2012 bei den Olympischen Spielen in London Serbiens Fahnenträger war, in dieser Lobeshymne zu verorten, die der Anbetung von Heiligen gleicht? «Er befindet sich auf der sehr feinen Grenze zwischen Patriot und Nationalist», sagt Loïc Trégoures, Dozent für Politikwissenschaft am Institut Catholique de Paris und Autor des Buchs Le football dans le chaos jugoslave (Editions Non Lieu, 2019).
Am Montag entscheiden die australischen Behörden über das Schicksal des «geächteten» Novak Djokovic. Die Serben, die am Freitag, dem 7. Januar das orthodoxe Weihnachtsfest feiern, werden an ihn denken.