WM-Pionier Bregy über seine Nachfolger: «Xhaka hat ähnliche Qualitäten wie ich»
Die Schweiz hat 1994 in den USA erstmals nach 28 Jahren wieder an einer WM teilgenommen. Sie haben im ersten Spiel gegen den Gastgeber das 1:0 erzielt. Noch heute spricht man davon, dass dieses Tor den Schweizer Fussball verändert hat. Teilen Sie diese Meinung?
Georges Bregy: Ich glaube nicht, dass nur mein Tor etwas verändert hat. Verändert haben wir als ganze Mannschaft. Diese WM war wie eine Wiederbelebung für die Nati, ein Neuanfang, der Start in eine erfolgreiche Zukunft. Wir haben den Jungen eine Perspektive vermittelt, ihnen signalisiert, dass man als Schweizer Fussballer etwas erreichen kann.
Der Neustart war fast gleichzeitig das Ende Ihrer Karriere, weil Sie nach der WM zurückgetreten sind.
Vor der Qualifikation zur WM wurde ich viereinhalb Jahre lang nicht mehr berücksichtigt. Als ich 1992 mit 34 wieder aufgeboten wurde, war das sehr speziell. Trainer Roy Hodgson stand auf der Kippe. Dass er auf einen alten Mann wie mich zurückgriff, wurde nicht überall goutiert. Viele glaubten, ich wäre überfordert.
Waren Sie nicht.
Mir gelangen gleich im ersten Spiel gegen Frankreich zwei Assists, ich hatte sofort viel Einfluss im Spiel. Ich habe meiner Frau danach gesagt: Wir sehen uns in nächster Zeit etwas seltener, weil ich alles dem Ziel «WM-Teilnahme» unterordne.
Aber Sie haben weiterhin nebenbei als Sportartikel-Verkäufer gearbeitet?
Ich habe immer nebenbei 50 Prozent gearbeitet. Das war für mich ein perfekter Ausgleich. Ich konnte nicht zu Hause rumsitzen und auf das nächste Training warten.
Heute ist das unvorstellbar.
Dadurch, dass ich gearbeitet habe, machte ich mir nie zu viele Gedanken über den Fussball. Warum läuft es mir schlecht, warum gut? Mir fehlte zum Glück die Zeit, darüber nachzudenken.
Umberto Barberis, Ihr Trainer in Lausanne, sagte Ihnen schon 1990, Sie wären zu alt, würden keinen Klub mehr finden.
Er hat gepokert. Eigentlich wollte er mit mir verlängern, aber auch mein Salär drücken. Was er zu diesem Zeitpunkt aber nicht gewusst hat, war, dass ich mit YB schon eine Einigung erzielt habe.
Bei YB haben Sie dann richtig Kasse gemacht?
Nein, ich habe gleich viel verdient wie zuvor in Lausanne. Ich habe nie zwei Klubs gegeneinander ausgespielt.
Haben Sie aus finanziellen Gründen nebenbei gearbeitet?
Seit ich 1984 von Sion zu YB wechselte, habe ich genug verdient, um den Lebensunterhalt für die Familie zu bestreiten.
Bei Sion war das nicht der Fall?
Sicher nicht zu Beginn. Als ich mit 21 zu Sion ging, verdiente ich 1500 Franken im Monat. Da musste ich sieben Stunden am Tag als Autoelektriker arbeiten. Morgens um 7.30 in die Werkstatt. Um 16 Uhr mit dem Velo ins Training.
Wie viel Prämie kassierten Sie für die WM-Teilnahme?
Ich weiss es gar nicht mehr. Das war aber auch nicht wichtig. Das grösste Geschenk war, überhaupt an einer WM dabei zu sein.
Nehmen Sie uns nochmals mit zum ersten WM-Spiel gegen die USA. Über 73'000 Zuschauer im Silverdome, das Dach geschlossen, über 40 Grad auf dem Rasen…
…ich fands einfach nur geil. Einige Mitspieler haben sich über die Hitze beklagt, störten sich daran, dass es nach Pommes und Hot Dog stinkt. Mir war das egal.
Und dann kam die 39. Minute.
Als ich den Ball für den Freistoss setzte, kam mir ein Blitzgedanke. Tony Meola, der amerikanische Goalie, spekuliert darauf, dass ich den Ball über die Mauer schiesse, weil ich das fast immer so gemacht habe. Also beschloss ich, den Plan zu ändern, in die weite Ecke zu schiessen.
Es hat funktioniert.
Oh ja, und das am Geburtstag meines Vaters, was mir erst später bewusst geworden ist.
TV-Kommentator Beni Thurnheer war ziemlich aus dem Häuschen. Sein Satz «es gibt keinen zweiten Georges Bregy» wurde Kult.
Die Art und Weise, wie ich Fussball gespielt habe, kann man nicht kopieren. Ich war schlitzohrig, hatte ein gutes Spielverständnis und eine gute Technik. Meine Pässe kamen in der Regel an, meine stehenden Bälle waren oft gefährlich. Sicher, ich war nicht der Schnellste. Aber das konnte ich mit Spielverständnis kompensieren.
Sehen Sie heute einen zweiten Georges Bregy?
Eine Kopie gibt es nicht. Aber Granit Xhaka hat ähnliche Qualitäten, wie ich sie hatte. Und er hat sich in den letzten zwei Jahren nochmals positiv entwickelt.
In welcher Hinsicht?
Er fordert nicht mehr jeden Ball. Und er spielt nicht mehr nur die kurzen, sicheren Pässe. Früher, so schien mir, war es sein Ziel, möglichst viele Pässe und möglichst wenige Fehlpässe zu spielen. Das Risiko hat er gemieden. Ich erwarte von einem wie ihm aber auch 10, 20 Pässe pro Match in die Tiefe. Die Qualität dafür hatte er schon immer. Aber erst seit zwei Jahren sehen wir sie vermehrt. Und was ich mir sonst noch von ihm wünsche: Mehr Abschlüsse. Denn er hat einen formidablen Schuss.
Xhaka wird nächstes Jahr 34. Wird die WM seine Abschiedsvorstellung in der Nati?
Das weiss ich nicht. Ich gab mit 34 mein Comeback in der Nati. Ich fühlte mich nach der WM 1994 nicht zu alt für den Profifussball. Ausserdem war ich noch gefragt. Servette und Xamax wollten mich. Aber ich konnte mir keinen schöneren Abgang vorstellen als nach der WM aufzuhören.
Warum haben Sie Ihre WM-Teilnahme nicht vergoldet?
Ich hatte schlaflose Nächte, als Xamax um mich warb. Sie haben mir einen Zweijahresvertrag angeboten und den Lohn hätte ich selber bestimmen können.
Bereuen Sie es?
Nein, warum?
Sie hätten nochmals richtig gut abkassieren können.
Macht Geld glücklich?
Zurück in die Vergangenheit: Türkyilmaz und Yakin wurden kurz vor der WM 94 aus dem Kader gestrichen. Sforza, Pascolo, Rueda und Subiat waren die einzigen Spieler mit Migrationshintergrund. Seither hat sich die Nati stark verändert.
Für mich ist das logisch. Einerseits, weil die Einwanderungswelle aus dem Balkan erst gegen Ende der 80er eingesetzt hat. Andererseits haben Secondos häufig etwas mehr Biss, weil sie im Fussball die Chance zum sozialen Aufstieg sehen.
Gab es Momente in den letzten Jahren, in denen Sie Mühe hatten, sich mit der Nati zu identifizieren?
Nein, überhaupt nicht. Die Nati verändert sich wie unsere Gesellschaft auch.
Haben die Einwanderer unseren Fussball besser gemacht?
Ich denke, sie konnten die Entwicklung, die wir 1994 eingeleitet haben, weiter vorantreiben.
Wenn es der Nati nicht gut läuft, flammt die Hymnen-Debatte auf. Aber 1994 hat kein Egli, kein Heer, kein Chapuisat, kein Geiger, kein Bregy und kein Sutter die Hymne gesungen. Warum eigentlich?
Einmal haben wir ganz bewusst die Hymne gesungen. Das war 1984, vor einem WM-Quali-Spiel in der Sowjetunion vor fast 100'000 Zuschauern. Wir sind 0:4 untergegangen. Danach haben wir die Hymne nie mehr gesungen.
Darüber hat sich niemand aufgeregt?
Nein, das war nie ein Thema. Ausserdem haben damals auch andere Nationalteams kaum je die Hymne gesungen.
Sehen wir heute die beste Schweizer Nati der Geschichte?
Wir gehören auch in diese Kategorie. Oder anders gesagt: Die 94er-Mannschaft war eine der besten der Geschichte.
Warum?
Wir hatten zwar nicht die Breite im Kader, wie sie heute besteht. Es waren lediglich 14, 15 Spieler, die immer wieder zum Zug gekommen sind. Aber Roy Hodgson hat die Mannschaft perfekt zusammengestellt. Der 4:1-Sieg gegen Rumänien an der WM 94 ist für mich bis heute das vielleicht beste Spiel einer Schweizer Nati.
Aber die aktuelle Nati…
…hat ein riesiges Potential. Nur bringt sie es nicht immer auf den Platz. Wir haben Söldner in den besten Ligen Europas. Wir müssen uns vor keinem Gegner fürchten. Wir haben längst selbst grosse Namen im Team. Für mich ist es ein Rätsel, dass die Nati wie im letzten Herbst nicht immer auf ihrem besten Niveau spielt.
Mit Verlaub, das war Nations League, ein nicht allzu wichtiger Wettbewerb.
Spielt doch keine Rolle. Es ist ein Länderspiel. Und ein Länderspiel will ich gewinnen, egal in welchem Wettbewerb.
Im Vergleich zu Ihrer Generation bestreiten die Spieler viel mehr Einsätze. Ist es da nicht logisch, dass man eher auf die wirklich wichtigen Spiele fokussiert?
Dann soll der Spieler dem Trainer mitteilen, wenn die Nations League für ihn keine Priorität hat. Ich verstehe, dass man nicht immer die beste Leistung abliefern kann. Aber mir geht es um die Einstellung. Die muss immer top sein, erst recht im Dress der Nati.
Was halten Sie von Trainer Murat Yakin?
Seine Coolness, seine Gelassenheit, das gefällt mir. Man spürt, dass er Spass hat an seinem Job. Und wenn es morgen heisst, du bist nicht mehr Trainer, geht für ihn die Welt nicht unter. Klar, letzten Herbst lief es nicht gut. Aber das war auch für ihn wichtig, um Anhaltspunkte zu bekommen, was funktioniert und was nicht. Er hat die richtigen Schlüsse gezogen. Das zeichnet einen guten Trainer aus.
Hat Ihnen als Trainer die yakinsche Gelassenheit gefehlt?
Oh ja. Insbesondere in Druckphasen. Als ich beim FC Zürich Trainer war, waren Leute im Klub, die gegen mich gearbeitet haben. Plötzlich konnte ich niemandem mehr vertrauen.
Wer hat gegen sie gearbeitet?
Erich Vogel. Er musste zwar als Sportchef gehen, aber mit Assistenztrainer Walter Grüter hatte er weiterhin eine Wanze im Team.
Warum soll Vogel gegen Sie gearbeitet haben?
Weil er wegen mir gehen musste. Dafür wollte er sich rächen. Also wurde ich Opfer einer von ihm orchestrierten Intrige. Gegen Ende meiner Zeit als FCZ-Trainer fühlte ich mich wie eine lebende Leiche.
Warum haben Sie 2003 nach der Entlassung beim FCZ keinen Versuch mehr unternommen als Trainer im Profifussball?
Ich fragte mich: Will ich mich nochmals einem solchen Druck aussetzen? Oder will ich mich mehr der Familie widmen? Ich arbeitete fortan als Versicherungsberater.
Mittlerweile sind Sie pensioniert.
Und ich geniesse das. Zwei Tage die Woche kümmere ich mich um die Enkelkinder. Und ich habe viel Zeit für meine Hobbys.
Zum Beispiel?
Radfahren. Und ich gehe das ganze Jahr über jeden Morgen im Zürichsee schwimmen.
