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Interview

Ricardo Rodriguez über seine Kindheit und Krankheit

Ricardo Rodriguez (SUI), rechts, gegen Runar Mar Sigurjonsson (ISL) waehrend dem Fussballspiel zur UEFA Nations League zwischen der Schweiz und Island, im Stadion Kybunpark in St.Gallen am Samstag, de ...
Ricardo Rodriguez zeigte gegen Island eine starke Leistung. Bild: PPR
Interview

Ricardo Rodriguez über seine Kindheit: «Es war 50 zu 50, dass ich überlebe»

Ricardo Rodriguez kam am Samstag gegen Island zu seinem 58. Länderspiel. Der 26-jährige Verteidiger ist ein sicherer Wert – dabei war er als Kind schwer krank und galt als schwierig.
09.09.2018, 19:5210.09.2018, 00:55
christian brägger / schweiz am wochenende
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Ein Artikel von Schweiz am Wochenende
Schweiz am Wochenende

Ricardo Rodriguez, Sie sind 26 Jahre alt, und bereits ist eine Biografie über Sie und Ihre Brüder Roberto und Francisco erschienen, die auch Fussballer sind. Sind Sie so wichtig?
Ricardo Rodriguez: Ich war am Anfang skeptisch, wollte meine Erlebnisse für mich behalten. Meine Brüder haben mich dann überredet. Ich hätte doch nie gedacht, dass ich jemals ein Buch machen würde. Aber ich will damit den Jungen zeigen, was es braucht, um das Ziel zu verwirklichen, Fussballprofi zu werden. Ich will meine Geschichte erzählen, wie ich aufgewachsen bin in der Agglo Zürichs.

Verarbeiten Sie damit die eigene Kindheit, die keine einfache war?
Vielleicht. Das Buch kann jenen helfen, die in der Kindheit krank sind – wie ich es gewesen bin. Sie sehen dann, was ich alles durchgemacht habe. Und dass man es dennoch schaffen kann.

«Es gab auch Schlägereien. Ich musste den Gleichaltrigen ab und zu zeigen, wie es läuft.»
Ricardo Rodriguez

Sie hatten eine schwere Zwerchfellhernie. Was ist das genau?
Das kann ich nicht in wenigen Worten erklären. Am besten schauen Sie bei «Google» nach. Ich bin mit diesem Problem geboren, hatte Mühe mit meinen Organen und den Folgen davon.

Zur Person
Ricardo Rodriguez wurde am 25. August
1992 geboren. Der Sohn eines Spaniers
und einer Chilenin ist zusammen mit
seinen beiden Brüdern Roberto und
Francisco – die ihren Lebensunterhalt
heute ebenfalls als Profifussballer verdienen
– in Zürich Schwamendingen
aufgewachsen. 2009 gewann er mit dem
U17-Nationalteam den Weltmeistertitel.
Drei Jahre später wechselte Rodriguez
vom FC Zürich zum VfL Wolfsburg, seit
Sommer 2017 spielt er bei der AC Milan.
Für die A-Nati hat er an zwei Welt- und
einer Europameisterschaft teilgenommen.

Es heisst, Sie seien als Kind speziell gewesen.
Das stimmt. Ich ging nicht gerne in die Schule, hatte viel Seich im Kopf. Manchmal schwänzte ich oder wurde vom Schulleiter nach Hause geschickt. Hausaufgaben wollte ich sowieso nie von mir aus machen. Und es gab auch Schlägereien. Ich musste den Gleichaltrigen ab und zu zeigen, wie es läuft (lacht). Dazu muss man wissen: Schwamendingen, wo ich aufgewachsen bin, war damals ein ziemlich hartes Pflaster.

Es gibt gar ein Kapitel mit der Überschrift: «Ricardo, das Sorgenkind».
Das hängt eben mit diesem Umfeld und meinen gesundheitlichen Problemen zusammen. Meine Eltern mussten sehr auf mich aufpassen. Bis ich drei Jahre alt war, war ich oft im Spital. Es war damals 50 zu 50, dass ich überlebe. Aber ich hatte Glück und den lieben Gott bei mir. Ich bin dankbar, dass ich noch lebe.

Das Buch über die Gebrüder Rodriguez.
Das Buch über die Gebrüder Rodriguez.Bild: weltbild

Sie haben einmal gesagt, es wäre ohne den Beruf des Fussballers schwierig geworden für Sie.
Sehr schwierig. Ich habe keine Lehre absolviert, wollte das einfach nicht. Vielleicht war ich zu überzeugt, dass es mit Fussball klappt. Zudem kann es sein, dass ich wegen meiner Krankheit rückständig war und ein paar Jahre verloren habe. Es war alles schwieriger für mich, und es wäre neben dem Fussball mit der Ausbildung wohl zu viel geworden. Ohne den Fussball hätte ich vermutlich keinen Topjob und hätte etwas suchen müssen. Fragen Sie mich jetzt nicht nach dem Was, bitte. Ich weiss ja heute nicht einmal, was ich nach der Karriere tun werde.

«Oje: Wenn mein Kind genauso wird wie ich, wird es für die Mama hart.»
Ricardo Rodriguez

Sie müssten nicht mehr arbeiten.
Das werden wir sehen. Vielleicht mache ich in der Tat zuerst Ferien für eine lange Zeit. Und schaue mir die Welt an. Aber ich will später ja auch Kinder haben

Was würden Sie dem kleinen Ricardo mit auf den Weg geben?
Er soll nicht so werden wie ich (lacht). Aber ich fände es trotzdem lässig, wenn das Kind so wäre wie ich. Ich würde ihm schon sagen, dass die Schule wichtig ist. Oje: Wenn es genauso wird wie ich, wird es für die Mama hart.

Musste Ihre Mutter oft helfen?
Ja. Sie musste immer wieder mit dem Schulleiter reden. Ich ging ja in eine Art Sonderschule – sie musste oft schlichten, wenn ich nach Hause geschickt wurde.

Ihr Vater?
Der Vater hat immer gearbeitet. Jetzt tut er das nicht mehr. Das war mein Wunsch, mein Entscheid. Und es macht mich stolz. Er hat das verdient, auch wenn er sich dagegen sträubte.

Sie waren ein unruhiges Kind. Das ist das Gegenteil von dem, wie Sie heute auf dem Platz wirken.
Ich habe mich heute tatsächlich beruhigt. Das entwickelte sich einfach so. Heute sage ich ja auch meine Meinung, wenn ich etwas nicht richtig finde. Und ich sage es auch, wenn es mir passt. Ich habe gerne ehrliche Menschen um mich. Falsche Leute sollen mich meiden.

Wie sind denn die Mitspieler in der Nationalmannschaft?
Die Leute hier sind super. Ich habe mit niemandem Probleme. Bis jetzt (lacht).

Sie schnupperten einst als Hausmeister in der Oerlikoner Eisbahn.
Das war meine erste Schnupperlehre. Die Schule vermittelte mir diese. Am zweiten Tag wurde mir langweilig, weil mein Kumpel nicht mehr kam. Also nahm ich den Gabelstapler, fuhr herum – und in eine Türe. Die war dann kaputt, der Chef stauchte mich schön zusammen. Natürlich entschuldigte ich mich dafür, aber ganz ehrlich: Solche Flausen habe ich manchmal noch heute im Kopf.

«Reden wir über Fussball, Mann!»
Ricardo Rodriguez

Haben Sie das Gefühl, Menschen, die sich weniger Gedanken machen im Leben, haben es einfacher? Beim Fussball sind Sie ja die Ruhe selbst. Und bringen seit Jahren Topleistung.
Das weiss ich nicht. Vor dem Spiel bin ich schon angespannt, auch wenn es vielleicht anders und unbeschwert aussieht. Es ist einfach meine Art, ruhig zu spielen. Auf dem Platz bin ich ja immer gut drauf.

Es gab jüngst einige Probleme um die Nationalmannschaft. Wie haben Sie das alles erlebt? Wir haben das alles aufgearbeitet. Darüber müssen wir jetzt nicht mehr reden. Reden wir über Fussball, Mann!

Wie sehen Sie Ihre eigenen Leistungen an der WM?
Ich finde, ich habe Leistung gebracht. Logisch ginge es noch besser. Es geht immer besser. Ich bin nie ganz zufrieden mit mir.

Haben Sie das Gefühl, das Schweizer Volk hat eine zu grosse Erwartungshaltung? Und ist zu wenig dankbar?
Das ist schwierig zu beantworten. Wir selbst wollen ja auch viel. Am liebsten würde ich im Final stehen und diesen gewinnen. Vielleicht sind die Anhänger trauriger und tragen dies länger mit sich herum. Es tut zwar noch weh, weil wir mehr hätten erreichen können. Aber ich schaue vorwärts.

Sie sind eine treue Seele, hatten mit Zürich, Wolfsburg und nun Milan erst drei Vereine.
Treu, was heisst das schon. Wenn man mich gut und korrekt behandelt, bin ich treu. Wenn man mir Wertschätzung gibt, bleibe ich. Sonst bin ich schnell weg.

epa06540760 Milan's Ricardo Rodriguez reacts after missing a penalty during the Italian Serie A soccer match between AC Milan and UC Sampdoria at Giuseppe Meazza stadium in Milan, Italy, 18 Febru ...
Die AC Milan ist erst die dritte Station von «Ricci».Bild: EPA/ANSA

Schätzt Milan Sie?
Bis jetzt schon. Gennaro Gattuso ist ein korrekter, ehrlicher Mensch, der Trainer liebt den Fussball. Aber man muss schon wissen. Italien ist eine ganz schwierige Liga, viele haben es hier nicht geschafft.

«Hallo? Milan bleibt Milan. Da kann jeder sagen, was er will.»
Ricardo Rodriguez

Paris-St-Germain soll im Sommer ein Thema gewesen sein.
Ja, das Interesse war da. Aber ich bin ja noch bei Milan. Ich spiele im San Siro, einem Weltklasse-Stadion. In diesem Land mit all diesen oft so herrlich verrückten Fussballfans.

Sie waren U17-Weltmeister. Damals sagte man, Sie könnten einst bei Real Madrid spielen. Machen Sie aus Ihrer Karriere zu wenig?
Wieso? Hallo? Milan bleibt Milan. Da kann jeder sagen, was er will. Glauben Sie mir, bei Milan wollen viele gerne spielen. Der Klub hat so eine Aura. Sie werden sehen, was passiert, wenn wir wieder Champions League spielen.

Switerland's Ricardo Rodriguez, left, and coach Dany Ryser celebrate their 2-1 over Italy at their U17 World Cup quarter-final soccer match in Ijebu Ode, Nigeria Sunday, Nov. 8, 2009. (KEYSTONE/A ...
2009 wurde Ricardo Rodriguez mit der Schweiz U17-Weltmeister.Bild: AP

Auf der linken Abwehrseite sind Sie weltweit einer der Besten.
Man muss wissen: Damals wurde das vielleicht gesagt mit Real, aber es gab ja nie ein wirkliches Interesse. Es ist mir sowieso gleichgültig, was die Leute sagen. Ich bin zufrieden jetzt. Aber es ist schön, dass mir die Leute viel zutrauen. Man muss es wegen meiner Krankheit auch so sehen, dass ich jetzt fast schon zu viel geschafft habe. Das erreichen wenige. Vielleicht hat jemand Krebs gehabt und ist jetzt ein Topsportler. Aber mit meiner Krankheit ist meines Wissens niemand so weit gekommen wie ich.

An Krebs ist 2015 Ihre Mutter gestorben. Ist das noch sehr präsent?
Es muss weitergehen. Aber klar tut es noch weh, es wird immer wehtun. Es gibt ein Kapitel darüber im Buch. Ich persönlich hätte es gerne für mich behalten. Aber es ist gut, haben wir darüber geredet und kennt man von uns Rodriguez-Brüdern auch diesen Teil.

Der Bauchspeicheldrüsenkrebs, den Ihre Mutter hatte, kann vererbbar sein. Haben Sie Angst?
Angst habe ich nicht, so könnte ich nicht leben. Ich glaube an den lieben Gott. Wenn meine Zeit reif ist, ist sie reif.

Woher kommt eigentlich Ihr Kosename Pilz?
Der kommt von mir. Ich habe früher meine Cousins so genannt. Dann habe ich den Namen irgendwann ins Nationalteam gebracht. Und jetzt sagen halt hier alle Pilz. Es ist ein cooler Name.

Wie sehen Sie Trainer Vladimir Petkovic?
Er macht einen sehr guten Job. Führte die Schweiz zweimal nach einander in die Achtelfinals einer Endrunde. Wir haben von den letzten 26 Spielen nur zwei verloren. Da lässt sich ihm eh nicht viel vorwerfen, oder? Wenn die Resultate so stimmen, muss vieles stimmen. Ich denke, er hat sich im Vergleich zu früher etwas mehr geöffnet, gibt etwas mehr preis von sich. Vielleicht wirkt er für die Medien nicht immer gleich, weil er manchmal mehr reden mag und manchmal weniger. Aber so bin ich ja auch. Heute zum Beispiel, da habe ich richtig Lust zum Reden.

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9 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Didihu
09.09.2018 20:46registriert Juni 2015
Super Typ
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Zat
09.09.2018 22:37registriert Januar 2016
'Heute, da habe ich richtig Lust zu reden.' Und dann endet das Interview. Schade, ich hätte nämlich richtig Lust gehabt, weiterzulesen. Tolles Interview, mit einem tollen Menschen. Danke.
541
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ChlyklassSFI // FCK NZS
09.09.2018 20:37registriert Juli 2017
Cooler Typ.
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