Ricardo Rodriguez, Sie sind 26 Jahre
alt, und bereits ist eine Biografie
über Sie und Ihre Brüder Roberto
und Francisco erschienen, die auch
Fussballer sind. Sind Sie so wichtig?
Ricardo Rodriguez: Ich war am Anfang
skeptisch, wollte meine Erlebnisse
für mich behalten. Meine Brüder haben
mich dann überredet. Ich hätte doch nie
gedacht, dass ich jemals ein Buch machen
würde. Aber ich will damit den Jungen
zeigen, was es braucht, um das Ziel zu
verwirklichen, Fussballprofi zu werden.
Ich will meine Geschichte erzählen, wie ich
aufgewachsen bin in der Agglo Zürichs.
Verarbeiten Sie damit die eigene
Kindheit, die keine einfache war?
Vielleicht. Das Buch kann jenen helfen,
die in der Kindheit krank sind – wie ich
es gewesen bin. Sie sehen dann, was
ich alles durchgemacht habe. Und dass
man es dennoch schaffen kann.
Sie hatten eine schwere Zwerchfellhernie.
Was ist das genau?
Das kann ich nicht in wenigen Worten
erklären. Am besten schauen Sie bei
«Google» nach. Ich bin mit diesem Problem
geboren, hatte Mühe mit meinen
Organen und den Folgen davon.
Es heisst, Sie seien als Kind speziell
gewesen.
Das stimmt. Ich ging nicht gerne in die
Schule, hatte viel Seich im Kopf. Manchmal
schwänzte ich oder wurde vom
Schulleiter nach Hause geschickt. Hausaufgaben
wollte ich sowieso nie von mir
aus machen. Und es gab auch Schlägereien.
Ich musste den Gleichaltrigen ab
und zu zeigen, wie es läuft (lacht). Dazu
muss man wissen: Schwamendingen,
wo ich aufgewachsen bin, war damals
ein ziemlich hartes Pflaster.
Es gibt gar ein Kapitel mit der Überschrift:
«Ricardo, das Sorgenkind».
Das hängt eben mit diesem Umfeld und
meinen gesundheitlichen Problemen zusammen.
Meine Eltern mussten sehr auf
mich aufpassen. Bis ich drei Jahre alt war,
war ich oft im Spital. Es war damals 50
zu 50, dass ich überlebe. Aber ich hatte
Glück und den lieben Gott bei mir. Ich
bin dankbar, dass ich noch lebe.
Sie haben einmal gesagt, es wäre ohne
den Beruf des Fussballers schwierig
geworden für Sie.
Sehr schwierig. Ich habe keine Lehre absolviert,
wollte das einfach nicht. Vielleicht
war ich zu überzeugt, dass es mit
Fussball klappt. Zudem kann es sein, dass
ich wegen meiner Krankheit rückständig
war und ein paar Jahre verloren habe. Es
war alles schwieriger für mich, und es wäre
neben dem Fussball mit der Ausbildung
wohl zu viel geworden. Ohne den
Fussball hätte ich vermutlich keinen Topjob
und hätte etwas suchen müssen. Fragen
Sie mich jetzt nicht nach dem Was,
bitte. Ich weiss ja heute nicht einmal, was
ich nach der Karriere tun werde.
Sie müssten nicht mehr arbeiten.
Das werden wir sehen. Vielleicht mache
ich in der Tat zuerst Ferien für eine lange
Zeit. Und schaue mir die Welt an. Aber
ich will später ja auch Kinder haben
Was würden Sie dem kleinen Ricardo
mit auf den Weg geben?
Er soll nicht so werden wie ich (lacht).
Aber ich fände es trotzdem lässig, wenn
das Kind so wäre wie ich. Ich würde ihm
schon sagen, dass die Schule wichtig ist.
Oje: Wenn es genauso wird wie ich,
wird es für die Mama hart.
Musste Ihre Mutter oft helfen?
Ja. Sie musste immer wieder mit dem
Schulleiter reden. Ich ging ja in eine Art
Sonderschule – sie musste oft schlichten,
wenn ich nach Hause geschickt wurde.
Ihr Vater?
Der Vater hat immer gearbeitet. Jetzt
tut er das nicht mehr. Das war mein
Wunsch, mein Entscheid. Und es
macht mich stolz. Er hat das verdient,
auch wenn er sich dagegen sträubte.
Sie waren ein unruhiges Kind. Das
ist das Gegenteil von dem, wie Sie
heute auf dem Platz wirken.
Ich habe mich heute tatsächlich beruhigt.
Das entwickelte sich einfach so.
Heute sage ich ja auch meine Meinung,
wenn ich etwas nicht richtig finde. Und
ich sage es auch, wenn es mir passt. Ich
habe gerne ehrliche Menschen um mich.
Falsche Leute sollen mich meiden.
Wie sind denn die Mitspieler in der
Nationalmannschaft?
Die Leute hier sind super. Ich habe mit
niemandem Probleme. Bis jetzt (lacht).
Sie schnupperten einst als Hausmeister
in der Oerlikoner Eisbahn.
Das war meine erste Schnupperlehre.
Die Schule vermittelte mir diese. Am
zweiten Tag wurde mir langweilig, weil
mein Kumpel nicht mehr kam. Also
nahm ich den Gabelstapler, fuhr herum
– und in eine Türe. Die war dann kaputt,
der Chef stauchte mich schön zusammen.
Natürlich entschuldigte ich mich dafür,
aber ganz ehrlich: Solche Flausen habe
ich manchmal noch heute im Kopf.
Haben Sie das Gefühl, Menschen, die
sich weniger Gedanken machen im
Leben, haben es einfacher? Beim
Fussball sind Sie ja die Ruhe selbst.
Und bringen seit Jahren Topleistung.
Das weiss ich nicht. Vor dem Spiel bin
ich schon angespannt, auch wenn es vielleicht
anders und unbeschwert aussieht.
Es ist einfach meine Art, ruhig zu spielen.
Auf dem Platz bin ich ja immer gut drauf.
Es gab jüngst einige Probleme um die Nationalmannschaft. Wie haben Sie das alles erlebt? Wir haben das alles aufgearbeitet. Darüber müssen wir jetzt nicht mehr reden. Reden wir über Fussball, Mann!
Wie sehen Sie Ihre eigenen
Leistungen an der WM?
Ich finde, ich habe Leistung gebracht. Logisch
ginge es noch besser. Es geht immer
besser. Ich bin nie ganz zufrieden mit mir.
Haben Sie das Gefühl, das Schweizer
Volk hat eine zu grosse Erwartungshaltung?
Und ist zu wenig dankbar?
Das ist schwierig zu beantworten. Wir
selbst wollen ja auch viel. Am liebsten
würde ich im Final stehen und diesen
gewinnen. Vielleicht sind die Anhänger
trauriger und tragen dies länger mit
sich herum. Es tut zwar noch weh, weil
wir mehr hätten erreichen können.
Aber ich schaue vorwärts.
Sie sind eine treue Seele, hatten mit
Zürich, Wolfsburg und nun Milan
erst drei Vereine.
Treu, was heisst das schon. Wenn man
mich gut und korrekt behandelt, bin ich
treu. Wenn man mir Wertschätzung gibt,
bleibe ich. Sonst bin ich schnell weg.
Schätzt Milan Sie?
Bis jetzt schon. Gennaro Gattuso ist ein
korrekter, ehrlicher Mensch, der Trainer
liebt den Fussball. Aber man muss schon
wissen. Italien ist eine ganz schwierige
Liga, viele haben es hier nicht geschafft.
Paris-St-Germain soll im Sommer
ein Thema gewesen sein.
Ja, das Interesse war da. Aber ich bin ja
noch bei Milan. Ich spiele im San Siro,
einem Weltklasse-Stadion. In diesem
Land mit all diesen oft so herrlich verrückten
Fussballfans.
Sie waren U17-Weltmeister. Damals
sagte man, Sie könnten einst bei
Real Madrid spielen. Machen Sie
aus Ihrer Karriere zu wenig?
Wieso? Hallo? Milan bleibt Milan. Da
kann jeder sagen, was er will. Glauben
Sie mir, bei Milan wollen viele gerne
spielen. Der Klub hat so eine Aura. Sie
werden sehen, was passiert, wenn wir
wieder Champions League spielen.
Auf der linken Abwehrseite sind Sie
weltweit einer der Besten.
Man muss wissen: Damals wurde das
vielleicht gesagt mit Real, aber es gab ja
nie ein wirkliches Interesse. Es ist mir
sowieso gleichgültig, was die Leute sagen.
Ich bin zufrieden jetzt. Aber es ist schön,
dass mir die Leute viel zutrauen. Man
muss es wegen meiner Krankheit auch so
sehen, dass ich jetzt fast schon zu viel
geschafft habe. Das erreichen wenige.
Vielleicht hat jemand Krebs gehabt und
ist jetzt ein Topsportler. Aber mit meiner
Krankheit ist meines Wissens niemand
so weit gekommen wie ich.
An Krebs ist 2015 Ihre Mutter gestorben.
Ist das noch sehr präsent?
Es muss weitergehen. Aber klar tut es
noch weh, es wird immer wehtun. Es
gibt ein Kapitel darüber im Buch. Ich
persönlich hätte es gerne für mich behalten.
Aber es ist gut, haben wir darüber
geredet und kennt man von uns
Rodriguez-Brüdern auch diesen Teil.
Der Bauchspeicheldrüsenkrebs,
den Ihre Mutter hatte, kann vererbbar
sein. Haben Sie Angst?
Angst habe ich nicht, so könnte ich
nicht leben. Ich glaube an den lieben
Gott. Wenn meine Zeit reif ist, ist sie reif.
Woher kommt eigentlich Ihr
Kosename Pilz?
Der kommt von mir. Ich habe früher
meine Cousins so genannt. Dann habe
ich den Namen irgendwann ins Nationalteam
gebracht. Und jetzt sagen halt
hier alle Pilz. Es ist ein cooler Name.
Wie sehen Sie Trainer Vladimir
Petkovic?
Er macht einen sehr guten Job. Führte
die Schweiz zweimal nach einander in die
Achtelfinals einer Endrunde. Wir haben
von den letzten 26 Spielen nur zwei
verloren. Da lässt sich ihm eh nicht viel
vorwerfen, oder? Wenn die Resultate
so stimmen, muss vieles stimmen. Ich
denke, er hat sich im Vergleich zu früher
etwas mehr geöffnet, gibt etwas mehr
preis von sich. Vielleicht wirkt er für
die Medien nicht immer gleich, weil er
manchmal mehr reden mag und
manchmal weniger. Aber so bin ich ja
auch. Heute zum Beispiel, da habe ich
richtig Lust zum Reden.