Bernard Challandes, hat Sie Ihre Frau für verrückt erklärt,
als Sie im letzten März mit 66 Jahren
den Job als Nationaltrainer des Kosovo
angenommen haben?
Bernard Challandes: Ich habe Glück, eine
solche Frau zu haben. Sie hat all meine
Abenteuer immer gerne mitgemacht. Ob
in Zürich, Armenien oder jetzt im Kosovo.
Sie waren nie im Kosovo, hatten
keinen Bezug zum Land. Jetzt sind
Sie Nationaltrainer. Wie kam es dazu?
Das war ein wenig Zufall. Der im Juni leider
wegen eines Herzinfarkts verstorbene
Präsident des kosovarischen Fussballverbandes,
Fadil Vokrri, lebte damals in
Frankreich. Er ist der berühmteste Fussballer
Kosovos und hat als Präsident dafür
gesorgt, dass sein Land von der Fifa und
der Uefa anerkannt wird. Vokrri war viel
in der Schweiz, weil es hier viele Kosovaren
gibt. Irgendeiner hat ihm dann gesagt, er solle mich verpflichten.
Sie waren nicht mehr Scout beim FC
Basel und demnach frei.
Ja. Nach meiner Zeit in Armenien hatte
ich eine gute Zeit in Basel. Dann kam die
neue Führung. Ich musste gehen, aber
das war o. k.
Gab es keine Angebote von anderen
Vereinen?
Doch, doch. Wenn ein Klub in Gefahr war,
gab es immer lose Anfragen. Aber ich war
im Kopf nicht bereit, bei Luzern, Xamax
oder Vaduz Feuerlöscher zu spielen. Da
hätte sich schon Barcelona melden müssen,
damit ich noch mal Vereinstrainer geworden
wäre. Nationalmannschaft ist in
meinem Alter besser. Du hast mehr Zeit
zum Beobachten und zum Vorbereiten
und musst nicht jeden Tag 100 Prozent geben.
Musste Vokrri Sie lange überreden?
Vokrri sprach Fussball und Französisch.
Wir haben uns gut verstanden. Ich habe
ihn nur zweimal getroffen und auch nicht
gross verhandelt. Ich habe auf mein
Bauchgefühl gehört und zugesagt. Es gibt
200'000 Kosovaren in der Schweiz. Das
hat mich interessiert.
Hat der kosovarische Verband ein Ziel
festgelegt, ohne dessen Erreichen
2020 Schluss ist?
Ja und nein. Ich habe keine Zielvorgabe,
aber die Kosovaren sind verrückt. Wir
haben fünfmal nicht verloren und kein
Gegentor kassiert, und schon träumen sie
von der EM.
Aber es ist doch schön, wenn das
renovierte Nationalstadion zur
Eröffnung gegen die Färöer mit 12'000
Zuschauern ausverkauft ist.
Klar. Das ist wunderbar. Der Kosovare hat
aber zu viel Selbstvertrauen. Das ist
eigentlich eine Qualität, aber auch
gefährlich. Wenn ich höre, wir müssen
jetzt an die EM, dann muss ich die Euphorie
bremsen und daran erinnern, wer wir sind.
Was haben wir gewonnen? Wo sind wir im
Fifa-Ranking?
Die neu eingeführte Nations League
macht es einfacher. Eines der
schwächsten 16 Teams Europas fährt
an die EM.
Die Nations League ist eine super Sache
für ein kleines Land wie den Kosovo. Ich
frage mich: Welche der 16 Mannschaften
in Liga D ist besser als wir? Georgien,
Weissrussland, Luxemburg? Wir können
unsere Gruppe gewinnen und dann ist im
Halbfinal und Final alles möglich. Doch
die EM-Qualifikation als Ziel auszurufen,
wäre dumm. Der Kosovo ist und bleibt eine
kleine Nation und gewinnt nicht einfach
so gegen Malta oder die Färöer.
Die jüngsten Erfolge sind Ihr Verdienst.
Was haben Sie verändert?
Der Kosovo hat in der Vergangenheit zu
viele Gegentore kassiert. Das Problem
waren die Stürmer, die ihren Job nicht
gemacht haben und die Schuld für die
Gegentore den Verteidigern zugeschoben
haben. Ich habe ihnen Videos von Man
City und Real Madrid gezeigt, damit sie
lernen, wie sie als Stürmer verteidigen.
Ist die Defensive das Hauptproblem?
Hier gibt es keine Verteidiger. Für einen
Kosovaren ist das nicht interessant. Das ist
ihre Mentalität. Jeder junge Spieler, der
mir angeboten wird, ist ein Offensivspieler.
Jeder!
Musste FCZ-Flügel Benjamin Kololli deswegen
Aussenverteidiger spielen?
Ouh Kololli. Wir haben diskutiert. Er sieht
sich als Stürmer, ich brauche ihn aber als
Verteidiger. Ich mag diese offensive Denkweise,
aber im modernen Fussball spielen
wir mit zehn Verteidigern. Das wollen
viele meiner Spieler nicht begreifen
Vokrri erhoffte sich, dass ein Schweizer
Trainer viele Doppelbürger für den
Kosovo rekrutieren kann. Wie finden
Sie potenzielle Kandidaten?
Das geht im Kosovo schnell. Da spielt
einer zwölf Minuten für Braunschweig
und schon muss er A-Nationalmannschaft
spielen. Grundsätzlich funktioniert das
so: Immer wenn ein Kosovare irgendwo
in Europa auch nur eine Minute gespielt
hat, ruft irgendjemand den Verband an.
Ich werde informiert, beobachte und
wähle einfach aus. Momentan ist die Auswahl
nicht so gross. Ich arbeite daran,
dass es mein Nachfolger dann schwieriger
hat.
Wie überzeugen Sie Doppelbürger, für
den Kosovo zu spielen?
Ich will nicht um Spieler kämpfen, sie
überzeugen oder sogar Druck ausüben.
Das ist in Albanien vielleicht ein bisschen
anders, aber ich mache das nicht. Am Ende
muss der Spieler selber entscheiden,
was für ihn am besten ist.
Kann ein junger Spieler, der von zwei
Ländern umworben wird, diesen Entscheid
überhaupt fällen?
Die Spieler sind heute alle gut beraten.
Die Agenten wissen, was das Beste für ihre
Klienten ist. Bei Kosovaren redet auch
immer die Familie mit. Am Ende überlegen
alle zusammen, was der beste Weg ist.
Herrscht unter den Verbänden ein
grosser Konkurrenzkampf?
Ich erzähle Ihnen gerne eine Geschichte.
Kastriot Dermaku, 26 Jahre, spielt in der
Serie B bei Cosenza. Für mich ist er ein
interessanter Innenverteidiger. Ich habe
ihn im September aufgeboten. Im ersten
Spiel sass er auf der Bank und wollte anschliessend
abreisen. Ich habe versucht,
ihn zu überzeugen, zu bleiben, doch er
hat die Mannschaft verlassen und auch
später nicht mehr auf Anrufe reagiert.
Jetzt habe ich gesehen, dass Albanien ihn
aufgeboten hat. Ich bin sicher, er ist deswegen
vor dem zweiten Spiel abgereist.
Hätte er gespielt, wäre er dauerhaft an
den Kosovo gebunden gewesen. Aber ich
stelle niemanden auf, nur um den Spieler
für andere Nationalmannschaften zu blockieren.
Spielen Kosovaren lieber für den
Kosovo oder lieber für Albanien?
Albanien ist für den Kosovo wie ein
grosser Bruder. Alle Kosovaren sind Albaner,
und für die albanische Nationalelf zu
spielen, ist eine grosse Ehre. Aber diese
Tendenz verschiebt sich momentan ein
wenig in Richtung Kosovo.
Weil Sie mit dem Kosovo gegen
Albanien 3:0 gewonnen haben?
Ja. Der Sieg und die guten Resultate
zeigen den Leuten, dass das Projekt
Kosovo zukünftig erfolgreicher sein könnte.
Es gibt überall in Europa viele gute junge
Kosovaren. Die träumen auch. Wenn
sie merken, dass eine EM-Teilnahme auch
mit dem Kosovo möglich ist, wird die
Entscheidung schwieriger.
Wie ist das mit den Schweiz-Kosovaren?
Luzerns Idriz Voca hat sich für
den Kosovo entschieden.
Das funktioniert genau gleich. Wir fragen
an. Wenn der Spieler sehr gut ist,
entscheidet er sich für die Schweiz. Bei
den anderen haben wir eine Chance.
Basels Albian Ajeti hätte ich natürlich
gerne genommen, aber es war klar, dass
er für die Schweiz spielt. Ich hätte das an
seiner Stelle auch so gemacht.
Bekommen Sie keine bösen Telefonate
vom Schweizer Verband?
Nein. Das einzige Konfliktpotenzial sehe
ich bei Schweizer U21-Spielern, die schon
für die A-Mannschaft des Kosovo gut
genug wären. Aber diese Spieler sind
intelligent genug: Wenn sie glauben, eines
Tages von Petkovic angerufen zu werden,
warten sie und sagen dem Kosovo ab.
Sie haben sich Ende September in
London beim Treffen aller Nationaltrainer
mit Vladimir Petkovic unterhalten. Sind kosovarische Abwerbeversuche
da überhaupt kein
Thema?
Ich war mit Petkovic und dem technischen
Direktor Laurent Prince spazieren.
Prince sagte: «Hey, Bernard, nimm
nicht zu schnell die Jungen weg.» Da
habe ich nur entgegnet: «Ich entscheide
nicht.» Am Ende muss der Spieler
wissen, was er will. Petkovic sieht das
auch so. Er wird auch keine Doppelbürger
einsetzen, nur damit sie nicht mehr
für den Kosovo spielen können.
Früher standen Sie auf der anderen
Seite, haben Behrami, Djourou und
Rakitic versucht für die Schweiz zu
gewinnen.
Oh ja. Bei Behrami haben wir ewig diskutiert.
Ich war in Verona, habe mit seinem
Vater geredet. Das war mein Job.
Mit Rakitic auch, aber das war sofort
klar, dass er lieber für Kroatien spielen
will. Damit müssen wir leben.
Für den Kosovo spielen fast ausschliesslich
Doppelbürger. In der
Schweiz warf dieses Thema während
der WM hohe Wellen. Hat Sie
die Diskussion geärgert?
Das war ein grosses Missverständnis.
Als ich beim Schweizer Verband
gearbeitet habe, hat es mich auch
geärgert, wenn Spieler, welche die U-Mannschaften
durchlaufen haben,
plötzlich das Land wechseln. Aber schauen Sie hier (Challandes zeigt auf
die Baustelle neben dem Stadion La
Charrière in La Chaux-de-Fonds).
20'000 Franzosen kommen im Jura
täglich über die Grenze. Sie kurbeln mit
ihrer Arbeit die Wirtschaft an, und das
ist gut. Als mein Sohn an der Uni sein
Diplom bekommen hat, waren da nicht
nur Müllers und Rochats. Da haben alle
möglichen Nationalitäten Preise abgesahnt.
Deren Namen haben mit -ic, -iti
oder da Silva aufgehört. Von den
Doppelbürgern profitiert das ganze
Land und auch der Fussball.
Ohne Doppelbürger gäbe es keine
kosovarische Nationalmannschaft.
Zumindest keine gute. Aber ich habe
ein ganz anderes Problem: Viele Kosovaren
haben gar keinen kosovarischen
Pass. Den zu bekommen, ist nicht
immer einfach und geht nicht von
heute auf morgen.
Jetzt werden Sie im hohen Alter
noch Staatsbürgerschaft-Experte.
Ja, ich lerne auch in diesem Bereich
dazu. Zu viel Energie will ich damit
aber nicht vergeuden. Ich habe genug
mit den Spielern, die schon einen
kosovarischen Pass haben, zu schaffen.
Können Sie mit den Jungen umgehen?
Ich bin kein alter Besserwisser, der
sagt: «Früher war alles besser, da
waren die Jungen noch höflich und
respektvoll.» Wenn sich aber einer
beklagt, weil er nicht spielt, werde ich
wütend. Dann sage ich: «Du spielst
nicht für mich, du spielst nicht für
dich, du spielst für den Kosovo.» Wenn
er das nicht akzeptiert, kann er zu
Hause bleiben.
Sie könnten schon längst die Füsse
hochlegen. Was treibt Sie an?
Ich träume gerne. Das war schon beim
FCZ so. Nach dem Meistertitel 2007
haben sie das halbe Team verkauft. Ich
bin trotzdem gekommen, weil ich Champions
League spielen konnte. Ich will
Grossereignisse nicht am TV
verfolgen. Ich bin lieber richtig dabei. Mit
dem Kosovo habe ich eine winzige Chance
auf die EM, also mach' ich den Job.
Hören Sie erst auf, wenn Sie an
einer EM oder WM waren?
Sag niemals nie. Aber momentan denke
ich, dass 2020 Schluss ist. Dann bin
ich 70 Jahre alt. Die EM-Teilnahme mit
dem Kosovo ist meine letzte Chance.