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EM 2024: Marcel Reif im Interview über Yakin, Schweiz und Deutschland

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Marcel Reif lebte 25 Jahre lang am Zürichsee.Bild: IMAGO/Ulrich Wagner
Interview

Marcel Reif: «Lassen wir Murat Yakin doch einfach mal arbeiten»

Er kennt Deutschland, und er kennt die Schweiz. Vor dem Duell der beiden Länder spricht die TV-Legende Marcel Reif über Patriotismus, unerfüllte Liebe und seine Fehleinschätzung über Toni Kroos.
23.06.2024, 05:03
François Schmid-Bechtel / ch media
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Marcel Reif, 74, ist der Doyen der Fussball-Reporter. Ein Brückenbauer mit dem Mikrofon und Träger des Adolf-Grimme-Preis. Das ist die renommierteste Auszeichnung für Fernsehsendungen in Deutschland. 2013 nahm er die Schweizer Staatsbürgerschaft an und gab die Deutsche ab. Inzwischen lebt der Vater von drei Söhnen wieder in Deutschland. Noch immer bringt er das Fussballspiel und alles drumherum mit prägnanten Sätzen auf den Punkt.

«Die Deutschen lieben ihre Nationalmannschaft und wussten acht Jahre lang nicht wohin mit ihrer Liebe.»

Nach dem 2:0 gegen Ungarn singen die deutschen Fans: «Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!» Stimmen Sie in den Chor ein?
Marcel Reif: (lacht) Nein, dafür bin ich zu lange dabei. Es ist weder verboten noch ausgeschlossen. Aber dass der Finaleinzug jetzt schon klar ist, wage ich zu bezweifeln. Fans dürfen allerdings vieles.

Diese Metamorphose ist schon erstaunlich. Im Winter lag Fussball-Deutschland am Boden, und nun ist die Stimmung eine ganz andere.
Das liegt auch daran, dass die deutsche Mannschaft in den vergangenen acht Jahren nichts zustande gebracht hat. Die Deutschen lieben ihre Nationalmannschaft und wussten acht Jahre lang nicht wohin mit ihrer Liebe. Jetzt, wo die Dinge auf dem richtigen Weg zu sein scheinen, bricht das alles heraus. Und das ist auch okay.

Wie viel hat das mit Trainer Julian Nagelsmann zu tun?
Sehr viel. Er musste erst mal bei sich Klarheit schaffen. Er hatte keine Erfahrung als Nationaltrainer. So wollte er ein paar Experimente machen, ging die Dinge kompliziert an. Irgendwann hat er begriffen, dass man es am besten einfach und klar hält. Er legte sich auf einen Plan, einen Kader, eine taktische Vorgabe fest. Und hat so sehr vieles richtig gemacht.

Überrascht Sie das?
Weil er ein wunderbarer Trainer ist und ein noch besserer wird, überrascht mich das nicht. Ausserdem lernt er sehr schnell.

Germany's head coach Julian Nagelsmann reacts during a Group A match between Germany and Hungary at the Euro 2024 soccer tournament in Stuttgart, Germany, Wednesday, June 19, 2024. (Spada/LaPress ...
Julian Nagelsmann lernt schnell.Bild: keystone

Die Stimmungslage in der Schweiz war gegen Ende Jahr ähnlich und jetzt wie in Deutschland beinahe euphorisch. Ist dieses extreme Schwarz-Weiss-Denken noch gesund?
Ach, es ist aber auch nicht krank. Fans gucken Fussball nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen. Und das Herz kennt nur Schwarz und Weiss. Grautöne, das ist nichts für Fans. Man möchte als Fan sofort lachen oder weinen. Und das hat auch etwas charmant Infantiles.

«Haltung zu zeigen, soll man den Fussballern bitte nicht verbieten.»

Einverstanden. Aber die Polarisierung ist auch ausserhalb des Sports extremer geworden.
Schon. Aber da vermengen Sie mir zwei Dinge, da gehe ich nicht mit. Ich möchte den Fussball nicht überfordern. Er ist Teil und Spiegelbild der Gesellschaft – okay. Aber so lange es im Rahmen bleibt, der Respekt da ist, möchte ich dem Fan Dinge erlauben, die in einer demokratischen Gesellschaft eigentlich nicht gehen.

Dieses Überladen einer Fussballmannschaft mit einem politischen Auftrag hat den Deutschen an der WM in Katar extrem zugesetzt. Hat man die Lehren daraus gezogen?
Ich hoffe es, und es sieht so aus. In Katar war von der deutschen Mannschaft zu viel verlangt. Das kann der Fussball nicht leisten. Der Fussball kann vieles, kann Menschen glücklich und traurig machen, aber die Probleme der Welt lösen kann der Fussball nicht. Das heisst nicht, dass der Fussball und seine Akteure blind sein müssen. Aber bitte nicht überladen und junge Menschen überfordern. Aber schauen Sie in die Schweiz.

Was meinen Sie?
Die Geschichte mit dem Doppeladler. Das wurden junge Menschen auch allein gelassen. Junge Menschen dürfen Fehler machen. Aber es ist an uns älteren, erwachsenen Menschen, ihnen die Grenzen aufzuzeigen und präventiv Dinge anzusprechen, damit sie nicht Seich machen, wie wir Schweizer sagen.

1992: Marcel Reif (rechts) mit seinem Förderer Dieter Kürten vor der berühmten ZDF-Torwand.
Bild: imago

Endlich wieder mal eine unpolitische Fussball-Endrunde, dachten viele. Und dann überrascht Kylian Mbappé und ruft zur Wahl gegen Extremisten in Frankreich auf.
Ich habe alle Ohren gespitzt und gehört, wie ein junger Mann, dessen Auftritt weder von einer PR-Abteilung noch von einem Verband orchestriert wird, sehr kluge Sachen sagt. Da spricht ein junger Mann, der seine Verantwortung als normaler Bürger wahrnimmt, und das in klaren, klugen Worten. Das hat mich enorm beeindruckt. Haltung zu zeigen, soll man den Fussballern bitte nicht verbieten. Aber wenn ein Verband wie der deutsche den Spielern irgendwelche Dinge aufzwingt, wie in Katar geschehen, kommt das nicht gut. Bei Mbappé kam es von innen, und es war das Beste, was ich in letzter Zeit von einem Fussballer gehört habe.

Wie stark nehmen Sie die Sehnsucht der Deutschen nach einer Kopie des Sommermärchens 2006 wahr?
Das ist völlig deplatziert und der Sache abträglich. Auch da versucht man, ohne Not etwas aufzupumpen. Es ist doch bis jetzt eine fröhliche EM, dann lasst es doch geschehen. Aber doch bitte nicht Vorbildern nachjagen.

2006 fühlten wir eine andere Leichtigkeit.
Ja, wir waren ja auch 18 Jahre jünger. Das hat hoffentlich etwas mit uns gemacht. Deutsche Flaggen, das war 2006 neu. Das hat uns erst mal selber fast erschreckt. Kurz darauf realisierten wir, dass das nicht negativ besetzt sein muss. Und dann kriegte alles so eine undeutsche Leichtigkeit. Heute musst du dir nichts mehr von Extremisten zurückerobern, die denken, Schwarz-Rot-Gold gehöre Neofaschisten. Aber noch mal: Der Fussball sollte die Leichtigkeit behalten. Denn wir reden vom Spiel der kleinen Jungs, das von Grossen gespielt wird.

Sehen Sie Unterschiede zwischen dem deutschen und dem schweizerischen Patriotismus?
Zum Glück sehr viel weniger als früher. Patriotismus war in Deutschland ein eher negativ besetztes Wort. Heute sind wir in diesem Thema viel unverkrampfter, weil deutscher Patriotismus nicht mehr gegen jemand anderen gerichtet ist, sondern für das eigene Land. Und dann ist Patriotismus völlig in Ordnung. Er muss nur in vernünftigen Grenzen passieren und darf nicht umschlagen. Und da ist mir das Schweizerkreuz genauso lieb wie Schwarz-Rot-Gold.

«Der Schweizer Grössenwahn ist nicht gefährlich, höchstens für sich selbst.»

Sie sagten mal, sie würden die Schweiz für ihre Mischung aus Grössenwahn und Minderwertigkeitskomplex bewundern. Bezieht sich das nur auf den Fussball?
Nein, zuweilen stelle ich das auch in der Gesellschaft fest. Ich mag das. Ich habe es als naiv und verspielt empfunden. Das ist nichts Gefährliches für die Welt.

Grössenwahnsinnig? Dabei heisst es doch häufig, wir Schweizer machen uns zu klein.
Wenn die Schweiz gegen Ungarn gewinnt, hat man das Gefühl, das Erreichen der Achtelfinals sei das Minimum. Aber dann sage ich: Moment, die zweite Halbzeit war doch gar nicht so gut. Wir Schweizer wollen im Rahmen der Alpen unser fröhliches Leben führen. Und bei Bedarf ziehen wir die Alpen 6000 Meter hoch, um unser kleines Idyll zu bewahren. Ja, man macht sich gern zu klein, und dann kippt es ins Gegenteil.

Sind wir in diesem Punkt den Deutschen nicht sehr ähnlich?
Deutschland ist aber zehnmal so gross. Ab einer gewissen Grösse ist Minderwertigkeitskomplex fehl am Platz und Grössenwahn gefährlich. Der Schweizer Grössenwahn ist nicht gefährlich, höchstens für sich selbst.

«Deutschland wird Favorit sein. Aber die Schweiz hat mit diesem Kader einiges zu bieten.»

Wie haben Sie die Schweiz wahrgenommen, als Sie hierhergezogen sind?
Idyllisch, eine Insel der Seligen, zu teuer. Sehr gut erzogen, die Menschen lassen einen in Ruhe.

Sind wir zu brav?
Zuweilen ja. Aber dann auch wieder forsch.

Prof Dr Med Marion Kiechle Ministerin Marcel Reif Muenchen 25.04.18 Hofbraeuhaus Maibockanstich Maibock *** Prof Dr Med Marion Kiechle Minister Marcel Reif Muenchen 25 04 18 Hofbraeuhaus Maibockanstic ...
Oktoberfest: Marcel Reif mit seiner dritten Ehefrau Marion Kiechle, die 2018 kurzzeitig Bayerische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst war.Bild: imago/Lindenthaler

Deutschlands Fussball hat in der Schweiz in den letzten Jahren an Sympathien gewonnen. Da schwingt viel Bewunderung für die Fussballkunst mit. Das sind keine «Panzer» mehr oder Rumpelfüssler wie vor 20, 30, 40 Jahren.
Sie fragen einen professionellen Beobachter, der sich von überschwänglichen Beobachtungen nie leiten liess. Sympathisch oder nicht, das kann ich nachvollziehen. Aber das sind nicht meine Werte in Bezug auf Fussball. Der Kleine kann mit dem Grossen im Norden tun – hinter dem Rücken, auf der Schulter oder vor der Nase , wie es ihm beliebt. Und das ist absolut in Ordnung.

Letztmals ging es 1966 wirklich um etwas: Wie sehr freuen Sie sich auf die Partie zwischen Deutschland und der Schweiz?
Ich bin gespannt darauf, ob sich die Schweiz was traut. Deutschland wird Favorit sein. Aber die Schweiz hat mit diesem Kader einiges zu bieten. David muss sich nur trauen, sonst wird Goliath gewinnen.

Wie gefallen Ihnen die Schweizer an dieser EM?
Gut. Gegen Schottland war's zwar etwas harzig, aber wir sind hier schliesslich bei einer Europameisterschaft. Aber auch da haben sie sich gegen harten Widerstand erfolgreich gewehrt. Werden die Schweizer Europameister? Nein. Sind sie konkurrenzfähig? Ja.

Deutschland gegen die Schweiz ist auch das Duell der Chefs: Kroos gegen Xhaka.
Ich mag beide sehr. Das sind zwei, die auch international Bemerkenswertes zu leisten in der Lage sind. Und zwar im ganz grossen Massstab.

Und beide hatten Jahre, in denen Sie von zu Hause nicht die verdiente Anerkennung erhielten, weil wir Ihr Spiel nicht verstanden haben. Sehen Sie das auch so?
Ich muss es so sehen, weil ich einer der grössten Kritiker von Kroos war. Es hat ein paar Jahre gebraucht, bis ich sein Spiel verstanden habe. Ich habe lernen müssen, und das habe ich ihm auch gesagt. Kroos hat bei Real Madrid sein Spektrum enorm erweitert. Und Xhaka sowieso. Er ist erwachsen geworden und ein solch hervorragender Leader. Der Titelgewinn von Leverkusen trägt den Namen von Xhaka.

«Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich in die Schweizer Torhüterdiskussion einschalte»

Sie sagten mal: «Die Schweizer Goalies sind so gut, dass sie die deutschen arbeitslos machen.»
Das ist doch die Wahrheit. Die Ausbildung, insbesondere im Torhüterbereich, ist offenbar herausragend. Gregor Kobel muss sich im Moment hinter gar keinem verstecken, auch nicht hinter Manuel Neuer, und ist in der Schweiz nur die Nummer 2. Yann Sommer ist mit Inter italienischer Meister geworden, nicht weil sie irgendeinen ins Tor stellen müssen, sondern weil er enorm dazu beigetragen hat.

«Lassen wir Murat Yakin doch einfach mal arbeiten.»

Hören wir da heraus, dass Sie Kobel stärker einschätzen als Sommer?
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich in die Schweizer Torhüterdiskussion einschalte. Seien Sie um Himmels willen froh, dass die Schweiz so viele herausragende Torhüter hat.

Im Auftaktspiel auf Xherdan Shaqiri gänzlich zu verzichten: War das Kategorie mutig?
Das war Kategorie angemessen, nehme ich an. So wie ich Murat Yakin kenne, nominiert er nicht nach Sympathie, sondern nach Einschätzung der Möglichkeiten. Das ist der Job des Trainers. Wenn du gewinnst, hast du alles richtig gemacht. Und wenn du im zweiten Spiel den Shaqiri bringst und er haut dir das Ding in den Winkel: Glückwunsch, Muri.

Sind wir uns in der Schweiz der Qualitäten Yakins bewusst?
Lassen wir ihn doch einfach mal arbeiten. Erst recht, weil er das doch richtig gut macht. Die Diskussion um Yakin Ende Jahr fand ich übertrieben. Wir können kritisieren und Unsinn reden. Da machen wir es uns manchmal etwas zu einfach. (aargauerzeitung.ch)

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