Die Tour de France endete in diesem Sommer mit einer Premiere. Erstmals in ihrer Geschichte ging sie nicht in Paris zu Ende, sondern in Nizza.
Die Hauptstadt kommt nun trotzdem in den Genuss eines Rennens, das womöglich in die Geschichtsbücher eingehen wird. Denn vor dem Startschuss (11.10 Uhr, Zielankunft ca. 17.30 Uhr) weiss keiner so genau, was zu erwarten ist. Dafür sorgen mehrere Faktoren.
Da ist zum einen die Grösse des Feldes. Nur 90 Fahrer dürfen starten, was kleine Teams zur Folge hat. Nur wenige Nationen haben je vier Starter, die Schweiz etwa hat mit Stefan Küng und Marc Hirschi nur zwei. Wer soll die Nachführarbeit übernehmen, wenn es gilt, eine Fluchtgruppe einzuholen? Ohne ihre Indianer werden es die Häuptlinge selber richten müssen. Aber wer zu viel Kraft vergeudet bei dieser Arbeit, dem kann sie in der Entscheidung fehlen.
Eine andere Begebenheit, die zur Unberechenbarkeit beiträgt, ist die Absenz des Funks. Kein sportlicher Leiter kann die Fahrer über Rückstände informieren und was sich im Rennen abspielt. Die Fahrer müssen sich wie in früheren Zeiten an den Tafeln orientieren, die ihnen die Beifahrer von Begleitmotorrädern zeigen.
Die Hoffnung ist, dass diese Umstände dazu beitragen, dass das Rennen attraktiv wird. Die Befürchtung ist, dass es genau deshalb eher langweilig wird. Zum Beispiel dann, wenn sich früh eine Fluchtgruppe mit sechs, sieben, acht Fahrern aus starken Nationen bildet, die dann nicht mehr eingeholt wird und die Medaillen unter sich ausmacht.
Marc Hirschi hofft, dass dieses Szenario nicht eintrifft. Der Berner wurde für Stefan Bissegger nachnominiert und ist im kleinen Schweizer Team die Nummer 1. «Ich bin bereit, mich für Marc zu opfern», betonte Stefan Küng, der sich zuletzt mit gesundheitlichen Problemen herumschlug, gegenüber Keystone-SDA.
Mit Hirschi verfügt die Schweiz über einen Fahrer, der einen ausgesprochenen Renninstinkt verfügt. Eine Eigenschaft, die in einem so aussergewöhnlichen Rennen besonders gefragt ist. Der Plan des 25-Jährigen: Während der ersten 180 Kilometer möglichst schonend mitfahren, um in der Endphase eine aktive Rolle spielen zu können. «Hinten hinaus liegt mir die Strecke, wenn es zuvor taktisch gut läuft», sagte Hirschi.
Klar ist: Das Schweizer Duo zählt nicht zu den allergrössten Favoriten. «Wir fliegen unter dem Radar», meinte Küng, und das kann nur von Vorteil sein. Bei einem Antritt von Hirschi oder Küng, der mit seinem «Diesel» ein Kandidat für den Platz in einer frühen Ausreissergruppe ist, würde unter Umständen nicht sofort reagiert werden.
Die Form stimmt bei Marc Hirschi. Während Küng am letzten Wochenende beim Olympia-Zeitfahren Rang 8 belegte, gewann Hirschi die Tschechien-Rundfahrt. Die ist kein besonders grosses Rennen, aber Sieg ist Sieg, und Sieg beflügelt.
273 Kilometer lang ist das Olympia-Rennen, rund 2800 Höhenmeter müssen bewältigt werden. Start und Ziel sind beim Trocadéro, der Kurs führt die Fahrer zunächst in den Westen von Paris und am Ende über drei Schlussrunden jeweils hinauf nach Montmartre. Der Anstieg mit Kopfsteinpflaster ist ein Kilometer lang und im Schnitt 6,5 Prozent steil.
Ein Anstieg wie gemacht für Mathieu van der Poel. Der Niederländer steigt als Topfavorit ins Rennen. Der amtierende Weltmeister gewann im Frühling überlegen das Double aus Flandern-Rundfahrt und Paris–Roubaix. «Man muss in jedem Moment auf der Hut sein», kündigte van der Poel an. «Die Favoritenrolle ist an sich gar nicht so schlecht. Es hängt von den Beinen ab.»
Als erster Herausforderer gilt – wie so oft – sein Dauerrivale Wout van Aert. Er ist einer der beiden grossen Trümpfe im belgischen Team, der andere ist Remco Evenepoel, der Zeitfahr-Olympiasieger, Gesamtdritte der Tour de France und Spezialist für lange Solofluchten.
Mit Jasper Stuyven, einem Sieger von Mailand-Sanremo, und Tiesj Benoot, einem Sieger von Strade Bianche, haben die Belgier vier Siegkandidaten in ihren Reihen. «Es wird wichtig sein, dass wir gut zusammenarbeiten», sagte Evenepoel am Freitag. Klar ist, dass er und van Aert die Captains sind, und Stuyven und Benoot die starken Helfer und Joker.
Die Franzosen hoffen auf den Puncheur Julian Alaphilippe, allerdings scheint der zweifache Weltmeister nicht in allerbester Verfassung zu sein. Oder hat er seine Form bewusst für diesen Höhepunkt aufgebaut? Am Sonntag gewann Alaphilippe vor Hirschi die letzte Etappe der Tschechien-Rundfahrt.
Zu beachten ist zudem der Däne Mads Pedersen. Der Weltmeister von 2019 ist oft gut, wenn das Rennen lang und hart ist, er hat Qualitäten am Berg und im Sprint. Pedersen kommt zudem zugute, dass sein Arbeitgeber Lidl-Trek mit acht Fahrern das grösste Kontingent stellt. Denkbar, dass sich einer mit geringen Aussichten fürs eigene Team in den Dienst des Fahrers stellt, der den Rest des Jahres an seiner Seite fährt, ihm vielleicht einmal einen Bidon oder einen Riegel reicht, oder eine etwas längere Ablösung übernimmt.
Gesucht wird in Paris der Nachfolger von Richard Carapaz, der von Ecuador nicht nominiert wurde, weswegen er den Verbandspräsidenten scharf kritisierte. Kann wie in Tokio erneut ein Fahrer aus der zweiten Reihe gewinnen? Neben den Schweizern kann man auch den Slowenen Matej Mohoric nennen, Michael Matthews aus Australien oder als «Dark horse» den Spanier Oier Lazkano.
Und schliesslich könnte ein Brite ein einmaliges Double schaffen. Nach seiner Goldmedaille im Mountainbike steht Tom Pidcock auch im Strassenrennen am Start – und er bringt alle Qualitäten mit, um auch dieses für sich zu entscheiden.