Mögen die olympischen Gralshüter hin und wieder mahnen, das Medaillenzählen sei unwichtig, wichtiger als zu siegen sei, dabei zu sein – die olympische Währung ist mehr denn je Gold und ein bisschen Kleingeld in Silber und Bronze.
Alles, was zählt, ist der Medaillenspiegel. Eine populäre Weltrangliste der Länder und nie versiegende Quelle des Patriotismus. Einmal mehr können wir an diesem Medaillenspiegel ablesen, dass die Schweiz eine der aussergewöhnlichsten Sportnationen der Welt ist. Kaum ein anderes Land ist, gemessen an Grösse und Bevölkerungszahl, seit so langer Zeit – seit gut 100 Jahren – in so vielen Sportarten so erfolgreich wie die Schweiz.
In der Vergangenheit hat es verschiedenste Erklärungen gegeben. Unter anderem den geografischen Vorteil für Triumphe im Wintersport und vorübergehend die Unversehrtheit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit dem ungestörten Sportbetrieb. Das ist richtig. Erklärt aber nicht, warum wir uns erst recht heute, in einer globalisierten Welt, durchsetzen. In einer Welt, in der so viele Länder so viel Geld in den Sport investieren wie nie.
Nach den medaillenlosen Winterspielen von 1964 in Innsbruck ist unser Sport in einer tiefgreifenden Reorganisation für den modernen Sport fit gemacht worden. Entscheidend war dabei die Stärkung eines zentralen Landesverbandes für Sport (heute Swiss Olympic), einer zentralen, vom Staat aber unabhängigen Behörde, die alle Interessen des Sportes bündelt, die Wirtschaft, Staat und Sport zusammenzuführen versteht.
Viele Faktoren sind seither für den erstaunlichen Erfolg unseres Sportes verantwortlich: unser Bildungssystem, unsere Mentalität, die Sportmedizin, die technischen Wissenschaften, die Politik und die Vorteile, ein kleines Land zu sein.
Das Bildungssystem spielt dabei eine nicht zu unterschätzende, oft vergessene Rolle. Unter den Schweizer Olympia-Helden sind die «Büezer» prominent vertreten. Will heissen: Sportlerinnen und Sportler aus sogenannt einfachen Verhältnissen, die nicht mit goldenen Löffeln im Mund auf die Welt gekommen sind. Reiche Eltern, also die Herkunft aus der Elite, sind in der Schweiz im Gegensatz zu sehr vielen anderen Ländern keine Voraussetzung für eine Sportlerkarriere.
Wir haben ein Schulsystem, das auf der ersten Stufe – in der Primarschule – für alle gleich ist. Millionärssohn und Büezerkind sitzen gemeinsam auf der Schulbank, und beide haben die gleichen Karrierechancen. Wer bei uns talentiert ist, dem steht der Weg nach oben offen. Im Sport und im Beruf.
Diese Durchlässigkeit der Gesellschaft, die in vielen Ländern aufgrund der sozialen Gegensätze immer mehr verloren geht, ist ein wichtiges Erfolgsgeheimnis. Talentierte Kinder haben bei uns jederzeit die Möglichkeit, einem Sportverein beizutreten und eine sportliche Karriere zu machen. Unter diesen Voraussetzungen gehen in der Schweiz verhältnismässig wenige Sporttalente verloren.
Grosse Nationen – typisch dafür sind etwa die Amerikaner – werden aufgrund ihres riesigen Potenzials dazu verführt, auf das darwinistische Prinzip zu setzen: Der Stärkste überlebt. Dabei gehen Hunderte von Talenten verloren. Wir aber tragen Sorgen zu den Sporttalenten. Bei uns gibt es im Sport eine zweite, dritte und auch vierte Chance.
Das sportliche Potenzial eines Landes hängt also nicht von der Zahl seiner Einwohner ab. Wenn das so wäre, dann hätten wir gar keine Chance in der globalen Welt des Sportes. Viel wichtiger ist, was wir aus unserem Potenzial machen. Ob es gelingt, die Talente zu erkennen und wie mit diesen Talenten umgegangen wird.
Dass wir ein kleines Land sind, muss kein Nachteil sein. Schweizer Sportlerinnen und Sportler haben Zugang zur weltweit besten Sportmedizin und müssen dafür nicht hunderte von Kilometern reisen wie in anderen Ländern. Und sie müssen nicht ihr vertrautes soziales Umfeld um der Karriere willen zu früh verlassen.
Diese Sportmedizin spielt eine sehr wichtige Rolle und wird durch einen ganz besonderen Umstand erst recht dynamisiert: In keinem anderen Land der Welt sind die Sportlerinnen und Sportler so intensiven Dopingkontrollen ausgesetzt. Oft wird vergessen und zu wenig gewürdigt, dass unser Sport bis heute weitgehend von grossen Dopingskandalen verschont geblieben ist.
Der Schweizer Sport arbeitet seit jeher erfolgreich mit Spezialisten aus allen Bereichen zusammen. Bereits 1972 in Sapporo liess der damalige Skiverbands-Direktor und spätere Bundesrat Adolf Ogi ein Jahr vor den Spielen Schneetemperaturen und Schneezusammensetzung wissenschaftlich analysieren. Der damals verfasste, 60 Seiten umfassende wissenschaftliche Bericht ist als «Geheimdossier» legendär geworden. Seither profitiert unser Sport immer und immer wieder von der Zusammenarbeit mit der eidgenössischen Wissenschaft.
Unser Sport hat längst einen goldenen Mittelweg zwischen einheimischem Schaffen und ausländischen Fachkräften gefunden: Unser Sport lernte und lernt heute noch viel von ausländischen Spezialisten. Aber wir haben nie fremde Lehren blind übernommen.
Der Schweizer Sport ist berühmt dafür, die Erkenntnisse von internationalen Spezialisten auf unsere Verhältnisse zu übertragen und eine eigene, starke Kultur aufzubauen. Heute wirken so viele Schweizer Trainer im Ausland wie ausländische Trainer im Schweizer Sport tätig sind.
Da und dort wird gelegentlich mit dem Hinweis auf Nordamerikaner oder Deutschland das Fehlen einer «Gewinner-Mentalität» moniert. Dabei haben wir eine gesunde, weit unterschätzte «Gewinner-Mentalität». In unserer Gesellschaft entwickelt sich auch eine gesunde Form des Patriotismus und des Selbstvertrauens. Unsere Sportstars haben durchwegs eine im Vergleich zu ihren ausländischen Konkurrenten sehr gute Schulbildung. Sie haben ein starkes Selbstbewusstsein. Nicht ein so lärmiges wie die Amerikaner oder die Deutschen, die ihren Patriotismus gelegentlich wie ein Plakat vor sich hertragen. Sondern ein leises, in sich selbst ruhendes: Der Stolz, Schweizer zu sein, das Bewusstsein, dass wir gegen jeden in der Welt eine Chance haben.
Ein gesundes Mass an Schlauheit, Unnachgiebigkeit und Beharrlichkeit, wenn es darum geht, eigene Interessen zu wahren und beharrlich in Wettkampf und Sportpolitik draussen in der Welt durchzusetzen, gehören zu den wichtigen Qualitäten unserer Athleten und Sportfunktionäre.
Die Schweiz ist auch sportpolitisch eine Weltmacht. Sie hat mit René Fasel, Denis Oswald, Gian-Franco Kasper und Patrick Baumann nach wie vor mehr Vertreter im IOC als beispielsweise China und die USA. Und Lausanne ist mit dem IOC-Sitz so etwas wie eine Welthauptstadt des Sportes. Was dazu führt, dass in keinem anderen Land der Welt so viele Sportverbände ihr Hauptbüro haben.
Unsere olympischen Helden benötigen Swiss Olympic als Dienstleister. Dieses Politbüro unseres Sports vertritt alle Sportverbände und koordiniert ein weit verzweigtes, vorbildliches Fördersystem, zu dem auch die Armee ihren Beitrag leistet.
Die Sportlerinnen und Sportler sind aber wirtschaftlich nicht mehr oder nur teilweise von unserer obersten Sportbehörde abhängig. Sie profitieren neben privatwirtschaftlicher Förderung (Sponsoring, Sporthilfe) von einer guten, auch durch staatliche und halbstaatliche Mittel (wie Sport Toto) finanzierten Infrastruktur und haben die Freiräume für die individuelle Entwicklung. Zudem hat der Betriebsökonom und ehemalige Spitzensportler Mike Kurt (Kanu) mit «I believe in you» die weltweit erfolgreichste Plattform für Crowdfunding im Sport aufgebaut.
Die Verbände (die im Sport eine ähnliche Rolle haben wie der Staat im richtigen Leben) unterstützen die Athleten. Aber sie bevormunden und gängeln sie nicht, und wenn es hin und wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Verbandsfunktionären und Sportlern kommt, so zeigt dies nur die Dynamik unseres Sportes.
Was bedeutet 2018 Pyeongchang für unseren Sport? Einen enormen Prestigegewinn. Jetzt, in diesen «goldenen Tagen von Südkorea», werden die Qualitäten unseres Sportes wieder einmal erkannt und gepriesen, und die Politikerinnen und Politiker eilen herbei. Die grosse Frage ist, ob es gelingt, etwas für den Sport herauszuholen, wenn die TV-Kameras wieder abgeschaltet sind. Es geht um Sions Bewerbung für die Spiele von 2026.
Es ist nicht möglich, hier in Pyeongchang einem ausländischen Chronisten oder Funktionär plausibel zu erklären, warum bei uns die Politikerinnen und Politiker aller Parteien und Regionen in unserer grandiosen Sportnation nicht alles daran setzen, die Spiele für 2026 in die Schweiz zu holen. Diese Spiele würden uns weniger kosten als das Jahresbudget unserer Armee. Aber in dieser Frage scheint eine besondere Schlaumeierei das Denken und Handeln zu bestimmen: Lassen wir doch die anderen alle zwei Jahre die Kosten für die Errichtung der olympischen Bühne aufbringen, auf der wir immer und immer wieder unsere Glanztaten aufführen können.