Diese Situation gibt es immer wieder und wegen der grossen Ausgeglichenheit in Zukunft immer öfter: Zwei Böse sind nach fünf Gängen punktgleich. Das Einteilungskampfgericht kann frei entscheiden, wer nun gegen den Punktbesten zum Schlussgang antreten darf.
Beim Unspunnenfest steht Samuel Giger im Schlussgang. Er hat am meisten Punkte. Hinter ihm sind der Berner Adrian Walther und der Innerschweizer Pirmin Reichmuth punktgleich. Das Einteilungskampfgericht entscheidet sich für Adrian Walther. Pirmin Reichmuth wird um eine eidgenössische Chance gebracht, die er vielleicht in seiner ganzen Karriere nie mehr bekommen wird.
Der Entscheid ist Willkür. Er lässt sich gut begründen. Aber ebenso gut hätte eine Schlussgangteilnahme von Pirmin Reichmuth begründet werden können. Selbst im Rahmen eines fünftägigen Schwingkongresses liesse sich keine Einigung erzielen, wer von den beiden Bösen die Schlussgangteilnahme mehr verdient hätte.
Entsprechend hitzig sind die Diskussionen um diesen Entscheid. Einige Fans beben noch zwei Tage nach dem Fest vor Empörung. Inzwischen geht es ja nicht einfach nur um ein vaterländisches Brauchtum. Es geht um viel Geld. Der Sieg oder auch nur die Schlussgangteilnahme bei einem Fest mit eidgenössischem Charakter wie dem Unspunnen schenken im Werbemarkt ordentlich ein. Ob beim Unspunnen im Schlussgang oder nicht, kann bei der Vermarktung des betreffenden Schwingers schon mal 50'000 bis 100'000 Franken Differenz ausmachen.
Das müsste so nicht sein. Das sog. «Technische Regulativ» ist der juristische Maschinenraum des Schwingens. Artikel 14 ist glasklar.
Es spielt also keine Rolle, wer von den punktgleichen Bösen bei diesem Fest mehr Maximalnoten, mehr Siege auf dem Notenblatt oder wer in der laufenden Saison mehr Kränze und Festsiege errungen hat. Auch Alter, Grösse, Gewicht und Verbandszugehörigkeit sind unerheblich. Es sind einzig und allein die Einteilungskampfrichter, die nach Gutdünken entscheiden. So wie es ihnen beliebt. Egal, wie dieser Entscheid ausfällt – er führt immer zu hitzigen Debatten, Kritik, Polemik, verbalem Donnerwetter und Streitigkeiten.
Früher war das eigentlich kein Problem. Die Debatten wurden höchstens am Abend im Festzelt geführt und dann gingen spätestens am Montag alle wieder zur Tagesordnung über. Die Medien interessierten sich nur am Rande für Schwingen.
Das hat sich durch die mediale Dynamik, die das Schwingen in den letzten Jahren entwickelt hat, von Grund auf verändert. Schwingen ist populär, liefert Stoff für Storys. Erst recht Willkür-Entscheide des Einteilungskampfgerichtes.
Die Lösung wäre einfach: Im Technischen Regulativ wird der Artikel 14 mit den Kriterien erweitert, die bei Punktgleichheit zählen. Dann ist alles klar. Zum Beispiel so:
Weisen mehrere Schwinger die gleiche Punktzahl auf, wird für den Schlussgang nominiert, wer auf dem Notenblatt:
Wird nach diesen klar messbaren sportlichen Kriterien bei punktgleichen Schwingern der Schlussgangteilnehmer nominiert, gibt es keinerlei Diskussionen mehr. Vier Kriterien dürften genügen.
Schwingen ist ein urhelvetischer, zutiefst demokratisch strukturierter Sport. Das Technische Regulativ ist Bestandteil der Statuten des Eidgenössischen Schwingerverbandes ESV und kann daher nur durch einen Beschluss der Abgeordneten-Versammlung abgeändert werden. Also ist der Antrag auf eine Änderung an die Abgeordnetenversammlung zu richten.
Artikel 5.4 der ESV-Statuen regelt, wer einen Antrag stellen darf.
Antragsberechtigt sind:
Es wäre also kein Problem, diesen Antrag bei der Abgeordnetenversammlung einzubringen. Kurioserweise ist sogar der Eidgenössische Jodlerverband dazu berechtigt. Wenn sich also ein Jodler in der Zentralschweiz geärgert hat, dass dem Innerschweizer Pirmin Reichmuth der Schlussgang beim Unspunnenfest vorenthalten worden ist, dann kann er ein Mitglied des Vorstandes des Eidgenössischen Jodlerverbandes dazu überreden, bei der nächsten ESV-Abgeordnetenversammlung einen entsprechenden Vorstoss zu machen.
Das wird natürlich nicht passieren. Logisch wäre vielmehr, wenn der Antrag aus Schwingerkreisen käme. Auf Anfrage sagt Rolf Gasser, der tüchtige ESV-Geschäftsführer, der seine Pappenheimer kennt: «Mit einem solchen Antrag ist nicht zu rechnen.»
Warum das so ist, sagt er nicht. Dabei ist die Erklärung ganz einfach: Das Technische Regulativ ist in den Grundzügen mehr als 100 Jahre alt und hat sich bis heute bestens bewährt. Änderungen kämen fast einer Operation am offenen Herzen des Schwingens gleich. An diesem Regulativ wird festgehalten. Forderungen nach Änderungen – womöglich gar aus den Medien – werden als «Teufelszeug» wider die ewigen Werte des Urchigen abgelehnt.
Der grosse Spielraum hat zudem für das Einteilungskampfgericht den Vorteil, dass bei der Bestimmung eines Schlussgangteilnehmers auch romantische Faktoren berücksichtigt werden können. Kürzlich waren beim Schwingen auf der Schwägalp nach fünf Gängen Samir Leuppi und Domenic Schneider punktgleich. Welcher der beiden «Bösen» sollte nun gegen den Punktbesten Mario Schneider zum Schlussgang antreten? Das Einteilungskampfgericht entschied sich für Domenic Schneider. Logisch. Er ist der Bruder von Mario Schneider. Zwei Brüder im Schlussgang bei diesem berühmten Berg-Kranzfest. Wahre Sägemehl-Romantik. Dabei hatte Samir Leuppi drei Maximalnoten auf dem Notenblatt. Domenic Schneider nur eine.
Womöglich spielt noch etwas eine Rolle: die Lust der «Sägemehl-Generäle» an der Polemik. Im Einteilungskampfgericht sitzen streitbare Männer. Wir dürfen uns auf die Polemik um den nächsten umstrittenen Entscheid freuen.