Bernhard Russi traf den Entscheid aus dem Bauch heraus. Nach der WM-Abfahrt 1978 in Garmisch sass er im Auto vom Zielgelände ins Hotel, stand vor einer Ampel, als er sich die Frage stellte: Wie lange mache ich das noch? Dann habe er sich gesagt: Wenn ich mir diese Frage stelle, ist der Zeitpunkt gekommen. Er kehrte um. Und verkündete seinen Rücktritt.
Welche Gedanken Roger Federer durch den Kopf geschossen sind, ob es eine Entscheidung des Herzens, des Bauchs, oder – am naheliegendsten, wenn man seiner Erklärung lauscht – der Vernunft war, wissen wir noch nicht. Spätestens am Donnerstag wird er sich im Rahmen des Laver Cups mit dieser Frage konfrontiert sehen. Sicher ist: Die Entscheidung, die er als «bittersüss» bezeichnet, ist ihm nicht leichtgefallen. Ganz im Gegenteil.
Im 4.34 Minuten langen Statement, das er um 15.05 Uhr Schweizer Zeit über die sozialen Medien verbreitet, ist er zu hören. Aber nicht zu sehen. Vielleicht, weil er nicht wollte, dass man sieht, wie schwer es ihm fällt, einen Schlussstrich zu ziehen. Weil er seine Emotionen vielleicht für einmal nicht mit der Welt teilen will. Weil der Rücktritt vom Tennis für ihn und seine Familie eine persönliche Entscheidung ist, die niemanden etwas angeht. Die er aber, weil er eine Sportikone ist, mit der Welt teilen muss.
Roger Federer liest ab, was auf zwei vor ihm liegenden Blättern Papier geschrieben steht. Das hat Klasse zwar, wirkt aber auch etwas unbeholfen. Und gerade deshalb ist es: echt, ehrlich, berührend. Und sympathisch.
Der Rücktritt war schon lange Thema. Erstmals Anfang 2016, als er sich beim Einlassen eines Bads den Meniskus im linken Knie gerissen hatte. Dann Anfang 2020 wieder, als er sich am rechten Knie operieren lassen musste. Und ab Sommer 2021, nach dem Viertelfinal-Aus in Wimbledon war die grösste Frage nicht mehr ob, sondern wo und wann es geschieht.
Federer führte seit Jahren einen Kampf gegen Windmühlen. Wo auch immer er hinkam, war sie schon da: die Frage nach dem Karriereende. Sagte er in Dubai zu einem Zaungast, er überlege sich, im Frühling auf Sand zu spielen, ging die Botschaft um den Globus. Mit jeder Übersetzung, mit jedem Weitererzählen wurde die Aussage noch etwas pointierter. Am Ende war aus einer beiläufigen Äusserung ein apokalyptischer Vorbote des Abschieds geworden. Denn wenn er auf Sand spiele, dann bestimmt, um sich vom Publikum in Madrid, Rom und Paris zu verabschieden.
Ende 2020 sagte er im Rahmen der Sports Awards: «Ich hoffe, es gibt noch etwas von mir zu sehen im neuen Jahr. Wenn ich es nicht schaffe, bricht für mich keine Welt zusammen. Schön wäre es einfach, wenn ich noch einmal auf den Platz zurückkehren würde.» Das schaffte er. Erreichte in Wimbledon noch einmal die Viertelfinals. Nach der letzten Operation aber mehrten sich die Anzeichen, dass es Roger Federer vielmehr darum geht, die Türe zu diesem Kapitel seines Lebens selbstbestimmt zu schliessen.
Es begann ein Ringen um ein Ende in Würde.
Nach aussen vermittelte Federer weiter den Eindruck, nicht bereit zu sein, den Tenniszirkus zu verlassen. Es sei sein «ultimativer Traum, nochmals zurückzukehren. Und tatsächlich glaube ich immer noch daran. Ich glaube an diese Art von Wunder. Ich habe sie schon erlebt. Die Sportgeschichte schreibt manchmal solche Wunder. Ich bin realistisch: Es wäre ein grosses Wunder. Aber im Sport gibt es Wunder», sagte er Ende November zur Westschweizer Zeitung «Le Matin». Aber auch, er habe sich operieren lassen, «um in den kommenden Jahren mit meinen Kindern Ski fahren oder mit meinen Freunden Fussball oder Tennis spielen zu können».
Lange hielt Federer an der Absicht fest, nochmals zurückzukehren, auf die Bühnen der vier Grand-Slam-Turniere, von denen Wimbledon für ihn über allem stand. Noch im Juli verdrängte dort Wunschdenken Realismus, als er anlässlich der Zeremonie zum 100-Jahr-Jubiläum des Centre-Courts sagte, es fühle sich komisch an, «hier in anderer Rolle zu stehen». Er betrat «den Platz meiner grössten Siege und grössten Niederlagen» als Letzter und am heftigsten umjubelt; er wirkte schon da mehr wie ein Ehemaliger als wie ein Aktiver, und das lag nicht nur daran, dass er einen Anzug trug.
Federer wusste, dass seine letzte grosse Mission scheitern konnte. Wie er die Ungewissheit annahm, sich nicht beirren liess von Stimmen, die sein Ansinnen als illusorisch, hinter vorgehaltener Hand sogar als peinlich bezeichneten, verdient Anerkennung. Er hat bei seiner Entscheidung auf die Signale seines Körpers und auf seine innere Stimme gehört und eine konsequente, wenn auch bittere und schmerzhafte Entscheidung getroffen.
Dennoch spitzt sich die Lage erst in den letzten Wochen vor dem Rücktritt dramatisch zu. Ende August meldet sich eine Person aus dem engsten Umfeld Federers bei dieser Zeitung. Es geht um ein Interview, das drei Wochen zuvor geführt worden war. Darin wird bekräftigt, Federer wolle beim Laver Cup spielen, und danach auch in Basel. Es sei nicht mehr sicher, ob Federer spiele. «Wenn er nicht in London spielt, was heisst das für Basel? Und wenn auch da nicht, dann muss er sich die Frage stellen: Wofür mache ich das noch? Bis zum Laver Cup brauchen wir Gewissheit.»
Die Person aus Federers Umfeld steckt in einem Dilemma. «Wenn im Interview steht, Roger spiele, und er sagt dann ab, stehen wir schlecht da. Und wenn wir sagen, dass es Unsicherheiten gibt, haben wir Unruhe.»
Der Laver Cup ist für Federer eine Herzensangelegenheit. «Roger steht unter Druck, eine Entscheidung zu treffen.» Mehr noch: Er spüre die Pistole an der Schläfe. Das Gespräch ohne Frage nach Federers Gesundheit zu veröffentlichen, kommt aus journalistischer Sicht nicht in Frage. Wir verzichten auf das Interview und vereinbaren Stillschweigen.
Nach dem Telefonat ist klar: Der Moment des Rücktritts ist gekommen.
Zuletzt war durchgedrungen, dass der Trainingsaufbau stockt, weil sich im Knie wieder Wasser angesammelt hatte. Am Donnerstag, 15. September, schafft Federer Fakten. Er sagt: «Ich kenne die Grenzen meines Körpers, und seine Botschaft an mich war in letzter Zeit eindeutig. Jetzt muss ich erkennen, wann es Zeit ist, meine Wettkampfkarriere zu beenden.»
Den Abend nach seinem Abschied verbringt Roger Federer im Kreis seiner Familie und Freunde im Hotel Baur au Lac am Zürichsee. Auf dem Schnappschuss, den eine Gratiszeitung veröffentlicht, wirkt er erleichtert.
Es ist ein bitterer Abschied. Aber eben auch ein süsser. (aargauerzeitung.ch)
Danke Roger für alles was du erreicht hast und wie du immer bedacht, seriös und mit Humor die Schweiz vertreten hast.