Der Anzugbeschiss der Norweger im Skispringen schlägt nach wie vor hohe Wellen. Am Samstag veröffentlichte ein polnischer Journalist Videoaufnahmen, die zeigten, wie die Sprunganzüge an den Nähten getrennt und wieder zusammengenäht werden. Nach dem Springen von der Grossschanze wurde bei den Norwegern Marius Lindvik und Johann André Forfang ein steifes Band in der Naht zwischen Knie und Schritt erkannt, welches die Flugeigenschaften verbessert, woraufhin der Zweit- und der Fünftplatzierte des Wettkampfs disqualifiziert wurden. Schon nach dem ersten Durchgang war Kristoffer Eriksen Sundal aus der Rangliste gestrichen worden. Am Tag darauf gab Jan Erik Aalbu, Sportdirektor des norwegischen Verbands, den Betrug zu:
Er selbst habe von dem Vorgehen ebenso wenig gewusst wie die Athleten, wie Aalbu erklärte. Ausserdem kündigte er Konsequenzen an. Erste liess er am Montagabend mit der Suspendierung zweier Verantwortlicher bereits folgen. Dennoch muss sich Aalbu Kritik gefallen lassen – und auch der Weltverband FIS scheint nicht nur die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Am Montagabend wurden Cheftrainer Magnus Brevig und Servicemann Adrian Livelten bis zum Abschluss der eingeleiteten Untersuchung suspendiert. Beide waren in den Videoaufnahmen zu sehen und akzeptierten den Entscheid des Verbands. Brevig erklärte auf einer Pressekonferenz, dass mit Thomas Lobben ein weiterer Trainer in den Fall involviert gewesen sei. Dieser wurde am Dienstagabend ebenfalls suspendiert. «Es war eine gemeinsame Entscheidung von uns dreien, aber als Chefcoach hätte ich das natürlich unterbinden müssen», gestand Brevig.
Der Druck vor der Heim-WM hätte das Trio zu dem Betrug verleitet. «Wir hatten zwei Medaillenkandidaten, die wir ganz oben haben wollten, also mussten wir sie auch entsprechend vorbereiten», so Brevig, der anfügte: «Wir bereuen es wie Hunde und es tut uns schrecklich leid.»
Servicemann Livelten teilte mit: «Was wir mit den Anzügen gemacht haben, hätte nie passieren dürfen und es ist eine Aktion, die ich für den Rest meines Lebens bereuen werde.» Auch er entschuldigte sich in einem Statement – allen voran bei den betroffenen Springern Lindvik und Forfang: «Ich möchte mich bei Marius und Johann für die Situation entschuldigen, in die sie unverschuldet geraten sind», so Livelten weiter.
Die involvierten Springer beteuerten in einem gemeinsamen Statement ihre Unschuld. Normalschanzen-Weltmeister Marius Lindvik und Johann André Forfang wiesen jede Beteiligung von sich und erklärten: «Wir sind beide absolut am Boden zerstört. Keiner von uns wäre mit Anzügen gesprungen, von denen wir wussten, dass sie manipuliert waren. Nie und nimmer.»
Der Weltverband FIS scheint ihnen dies zu glauben. Zumindest dürfen Lindvik, Forfang und auch Sundal schon am Donnerstag wieder an den Start gehen. Dann beginnt in Norwegen das «Raw Air Tournament», das Teil des Skisprung-Weltcups ist und eine Art norwegische Vierschanzentournee ist – wobei dieses Jahr nur in Oslo und Vikersund gesprungen wird, nicht auch in Trondheim und Lillehammer.
Die Resultate der vorherigen Springen an der WM in Trondheim bleiben ebenfalls bestehen. Lindvik darf seine Medaillen (Gold von der Normalschanze und im Mixed-Team, Bronze im Team) ebenso behalten wie Forfang (Gold im Mixed-Team, Bronze im Team) und Sundal (Bronze im Team).
Es kommen aber auch Zweifel daran auf, dass Lindvik und Forfang wirklich nichts von dem Betrug wussten, wie sie und auch Sportdirektor Aalbu beteurten. SRF-Experte Marco Grigoli erklärte: «So sehr ich diese Athleten mag, ich kann nicht glauben, dass man diese Manipulation nicht merkt. Vor allem, wenn es um die Spannung im Anzug geht.»
Ähnlich klingt es bei Skisprung-Legende Sven Hannawald. Der ARD-Experte stellte klar, dass ein Sportler Veränderungen am Ski oder dem Anzug sehr genau mitbekomme. «Wenn ich jetzt vom Norweger Johann André Forfang lese, dass er von nichts gewusst hat – da könnte ich mich schon wieder auf meinen Hacken im Kreise drehen, bis es qualmt. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man wirklich so dreist sein kann, uns alle zu belügen», polterte der Deutsche. Als Springer wisse man, wie sich ein Anzug anfühle. «Wenn der steifer ist, merkst du das. Hundertprozentig wusste er davon. Das setzt dem ganzen Betrug noch mal Dreistigkeit obendrauf», so der 50-Jährige.
Die FIS diskutiert bereits erste Änderungen für die Kontrolle. So plädierte der Chef der Materialkommission der FIS, Andreas Bauer, unter anderem bei den «Stuttgarter Nachrichten» für Körperscanner. Bisher werde alles von Menschen überprüft, das müsse sich ändern. «Wir müssen jetzt so schnell wie möglich auf die moderne Technik umsteigen und 3-D-Scanner nutzen – wie am Flughafen», so Bauer.
Das Scannen der Körpermasse der Springer ohne und mit Anzug würde «die Kontrollen auf ein neues Level heben». So lasse sich jeder Zentimeter des Anzugs schnell und genau überprüfen – vor, während und nach dem Wettkampf. «Mit der modernen Technik werden wir es schaffen, Betrügereien dieser Art künftig zu verhindern», zeigte sich der Deutsche sicher.
Um das Vertrauen in faire Skisprung-Wettkämpfe in der Zeit, bis solche technischen Neuerungen implementiert werden können, zurückzugewinnen, hat Bauer ebenfalls einen Vorschlag: «Wir lassen pro Springer nur noch einen Anzug zu und prüfen diesen auf Herz und Nieren. 30 Minuten vor Wettkampfbeginn werden die Anzüge ausgegeben und unmittelbar nach dem Springen wieder in die Obhut der FIS eingezogen.» Dies müssten aber höhere FIS-Instanzen beschliessen.
Dass die drei Norweger vorerst keine weiteren Konsequenzen ausser dem Ausschluss aus dem WM-Springen von der Grossschanze am Samstag zu befürchten haben, liegt auch daran, dass die FIS sich bisher weigert, die Untersuchungen auf die weiteren Wettbewerbe auszudehnen. Die gemeinsame Forderung der Verbände von Österreich, Slowenien und Polen, alle mit Skisprung in Verbindung stehenden Ergebnisse der Norweger an der WM zu annullieren, lehnte der Skisport-Weltverband ab.
Sandro Pertile, FIS-Renndirektor fürs Skispringen, erklärte, dass die anderen Wettkämpfe inklusive der Prüfungen der Anzüge bereits abgeschlossen seien und es dort keine Auffälligkeiten gegeben hätte. Dass die Verantwortlichen nach Veröffentlichung des Videos aber nicht alle Anzüge der Norwegerinnen und Norweger eingezogen und untersucht haben, sorgt nun für Kritik.
So erklärte beispielsweise der frühere deutsche Springer Martin Schmitt bei Eurosport: «Um weitere Verdächtigungen auszuräumen, hätte der erste proaktive Schritt der Norweger schon nach dem ersten Verdachtsmoment sein müssen, sämtliche WM-Anzüge unverzüglich zur Verfügung zu stellen.» Aufgrund der Chips in den Anzügen hätte man diese alle zuordnen und so zeigen können, «dass sie frei von Manipulation sind, dass zumindest in den anderen Wettbewerben alles mit rechten Dingen zuging». Dies geschah jedoch nicht, was Fragen über die Aussage des norwegischen Verbands aufwirft, dass das Vergehen nur bei zwei Anzügen stattgefunden habe.
Ein weiteres Indiz für frühere Eingriffe scheinen die Ergebnisse Lindviks zu sein. An der Vierschanzentournee wurde der 26-Jährige 26., 20., 27. und 30., danach gelang ihm zwar immerhin ein Top-10-Resultat, in Willingen verpasste er Anfang Februar dann aber gar den 2. Durchgang. In der Folge steigerte er sich plötzlich und schaffte es in Lake Placid und in Sapporo gleich dreimal in die Top 10, bevor er in der Heimat dann Weltmeister wurde.
Während sich der verantwortliche Weltverband mit Untersuchungen und Strafen eher passiv verhält, solle die Priorität angeblich an anderer Stelle liegen. So berichtet die «Bild» am Dienstagnachmittag, dass die FIS am meisten daran interessiert sei, aufzudecken, wer das Video aufgenommen hat. Veröffentlicht wurde es vom polnischen Journalisten Jakub Balcerski, wer es diesem zugespielt hat, ist unbekannt. Deshalb solle bereits versucht worden sein, an Bilder von auf dem Gelände rund um das Hotel und das Stadion angebrachten Überwachungskameras zu kommen. So soll herausgefunden werden, wer den Betrug heimlich gefilmt hat. Ob die Jagd auf den Whistleblower im aktuellen Skandal jedoch der richtige Fokus ist, darf bezweifelt werden.
Derweil gibt es gar Spekulationen, dass die Tragweite des Skandals über den Anzugbeschiss hinausgeht. So berichteten der norwegische Privatsender TV2 und die deutsche Zeitung «Bild», dass auch Marius Lindviks Bindung manipuliert sei. Beide zeigten ein Bild, das angeblich den linken Ski und die darauf befestigte Bindung zeigen, die Lindvik beim Triumph auf der Normalschanze benutzt habe. Die Bindung soll abgeschliffen worden sein, was den Ski leichter gemacht und dem Springer einen Vorteil beim Übergang in den V-Stil verschafft hätte.
Der mittlerweile suspendierte Trainer Magnus Brevig erklärte, dass es sich nicht um jenen Ski handle: «Lindviks Bindungen wurden vor dem Springen von der Materialkontrolle gecheckt.» Andere Mitglieder des norwegischen Teams konnten hingegen nicht ausschliessen, dass es sich um Lindviks Ski handle.
Darüber hinaus berichtete auch der österreichische Nationaltrainer Polens, Thomas Turnbichler, von Beobachtungen, die ihm suspekt erschienen. So hätten norwegische Skispringer die Materialkontrolle immer wieder ohne Ski betreten, ausserdem habe er im Verlauf der Saison viele verschiedene Fotos von norwegischen Skibindungen gesehen. «Ich habe da viele verdächtige Sachen gesehen», so Turnbichler, der forderte: «Das gesamte norwegische Material der gesamten WM muss noch einmal kontrolliert werden. Die Regeln lassen das klar zu.»
Viele Fragen bleiben rund um den Skandal im Skispringen aktuell noch offen. Klar ist aber, dass er die Wintersport-Welt wohl noch einige Zeit beschäftigen wird.
Die FIS sollte eher dankbar sein, dass dieser Skandal aufgedeckt wurde.
Schon unglaublich, eigentlich.