Trotz 3:2-Heimsieg am Mittwochabend gegen den FC Basel: Der Blick auf die Tabelle und der bisherige Saisonverlauf lassen nicht erahnen, dass die Berner Young Boys sich gerade Luxusprobleme leisten können. Jede verfügbare Qualität, so die Meinung, müsste zur Korrektur des historisch schlechten Fehlstarts gebraucht werden. Der Blick aufs Matchblatt vor dem FCB-Spiel zeigt indes: Sehr wohl leistet sich YB Luxus! Und was für einen!
Hintergrund: Bei einer Umfrage in der Szene nach der grössten Schweizer Zukunftshoffnung auf der Goalieposition gibt es nur wenige Stimmen, die nicht Marvin Keller nennen. Mehr noch: Viele sind der Meinung, der 22-Jährige sei bereits jetzt der beste Goalie in der Super League. Mache mit seiner Klasse, seinem Selbstbewusstsein und seinen technischen Fähigkeiten mit dem Fuss die fehlende Erfahrung mehr als wett. Sicher nicht falsch ist die These, dass dem FC Winterthur letzte Saison zu einem Grossteil dank Leihgoalie Marvin Keller der sensationelle Sprung in die Top 6 gelang.
Was bitte hat dann ein solcher Topgoalie auf der Ersatzbank des Tabellenzehnten der Super League zu suchen? Die Antwort ist eine Mischung aus «David von Ballmoos» und «sportliche Krise».
Von Ballmoos ist Eigengewächs, sechsfacher Meistergoalie und längst eine lebende Klublegende. Restlos überzeugt scheinen sie in Bern zwar nicht mehr vom 29-Jährigen, das hat das Jahr 2023 gezeigt, als sich von Ballmoos nach überstandener Verletzung vorerst hinter Anthony Racioppi anstellen musste. Doch von Ballmoos kann Erfahrung vorweisen. Viel Erfahrung. Und auf genau diese setzen Trainer in kritischen Phasen: Vor knapp einem Jahr kam Raphael Wicky nach lediglich zwei Siegen in sechs Ligaspielen und einigen Wacklern Racioppis auf seinen Entscheid zurück, fortan spielte wieder von Ballmoos, und Racioppi flüchtete Ende Saison entnervt Richtung England.
Ein ähnliches Schicksal ereilt nun Marvin Keller: Nach der Rückbeorderung aus Winterthur muss er ausgerechnet in den erfolgreichen Champions-League-Playoffs gegen Galatasaray den verletzten von Ballmoos ersetzen. Mit seinen zwei Topleistungen befeuert Keller die Goaliediskussion in Bern aufs Neue. Vom damaligen Trainer Patrick Rahmen bekommt er denn auch Einsatzminuten zugesichert – unabhängig vom Gesundheitszustand von Ballmoos'.
Gut möglich, dass Keller bei normalem Saisonverlauf schleichend zur Nummer 1 geworden wäre. Doch statt rascher Rehabilitation in der Super League nahm der YB-Absturz immer dramatischere Züge an und gipfelte Anfang Oktober in der Entlassung von Patrick Rahmen. Eine der ersten Amtshandlungen von Interims-Nachfolger Joël Magnin war es, von Ballmoos zur unbestrittenen Stammkraft zu erklären. Der übliche Trainerreflex in prekären Zeiten – Alter vor Qualität.
Die Resultate geben Magnin Recht: Er muss das Team stabilisieren und schleunigst Punkte holen – mit deren sechs aus drei Partien ist das bis dato gelungen. Und von Ballmoos wirkte zuletzt stabiler als noch im Sommer, an Magnins Premierensieg gegen Luzern (2:1) hatte er grossen Anteil. Für Keller, der mit seinen Auftritten gegen Galatasaray auch ausländische Interessenten auf den Plan rief, umso bitterer. Er sitzt im goldenen Käfig, die Aussicht auf Spielminuten ist drastisch gesunken.
Interessant: Inzwischen hat Keller die Berateragentur gewechselt, wird neu vom deutschen Topagenten Volker Struth vertreten. Ein Indiz dafür, dass Keller einen Wechsel anstrebt. Das Rüstzeug für eine internationale Karriere bringt er mit. Nun braucht er eine Bühne. Dass er diese bei YB erhält, ist unwahrscheinlich: David von Ballmoos hat seinen Vertrag bis 2027 verlängert.
Vielen dank an David aber er muss jetzt Platz machen.