Wandtafel
Zu erst gegen die Regierung und 'die da oben' wettern, dann hoffen dass der Staat in eine privatwirtschaftliche Firma Geld pumpt damit der eigene Arsch gerettet ist. Herrlich.
Sunderland ist eine Stadt im Nordosten Englands. Bekannt ist sie für ihren Fussballklub, der zwischen der Premier League und der zweithöchsten Spielklasse hin und her pendelt. Sunderland ist auch Standort einer Fabrik des japanischen Autoherstellers Nissan mit 6700 Beschäftigten. Die meisten Fahrzeuge werden in Länder der Europäischen Union exportiert.
Sunderland stimmte am letzten Donnerstag mit 61,3 Prozent für den Austritt aus der EU.
Nun herrschen Ernüchterung und Angst. Ein Nissan-Arbeiter namens Steven, der seinen Nachnamen nicht nennen wollte, sagte der «Financial Times», er habe für den Brexit gestimmt. Als er am Morgen danach aufgewacht sei, habe er sich gefragt: «Was habe ich getan?» Die Arbeiter in der Autofabrik seien schon vor der Abstimmung besorgt gewesen, denn Sunderland befinde sich einem intensiven Wettbewerb mit anderen Standorten der Renault-Nissan-Allianz.
Seit Jahren drohe ein Stellenabbau, wenn man der Konkurrenz nicht voraus sei, sagte Steven. Carlos Ghosn, der Chef von Renault-Nissan, hatte sich im Vorfeld der Abstimmung für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Steven war trotzdem für den Austritt, «weil ich will, dass Britannien wieder Britannien ist». Zahlreiche Arbeiter hätten gleich gehandelt. Nun stehen sie vor einer ungewissen Zukunft. Steven hofft, dass «die Regierung Geld in Nissan steckt».
Viel erwarten darf er nicht. Finanzminister George Osborne hatte am Montag noch versucht, die Märkte zu beruhigen: «Unsere Wirtschaft ist so stark wie nötig, um sich der Herausforderung zu stellen, die auf unser Land jetzt zukommt.» Am Dienstag äusserte er sich bedeutend weniger zuversichtlich: «Es ist eindeutig, dass das Land aufgrund der aktuellen Ereignisse ärmer werden wird», sagte er in einem Radiointerview mit der BBC. Er kündigte Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen an.
Geld für Nissan liegt da kaum drin. Der Cheflobbyist der britischen Autoindustrie hob am Mittwoch die Bedeutung einer weiteren Beteiligung Grossbritanniens am EU-Binnenmarkt hervor. Tags zuvor hatte Wirtschaftsminister Sajid Javid betont, ein sicherer Zugang zum Binnenmarkt sei das oberste Ziel bei den Austrittsverhandlungen. Die Gemüter konnte er damit kaum beruhigen. Carolyn Fairbairn, die Direktorin der britischen Industrievereinigung, erklärte, die Regierung sei «weit davon entfernt», einen Plan zu haben.
Die Verunsicherung ist Gift für den Wirtschaftsstandort Grossbritannien. Seit dem Brexit-Votum häufen sich die Negativmeldungen. So haben die Ratingagenturen Standard & Poor's und Fitch die Kreditwürdigkeit des Königreichs herabgestuft. Banken in der Londoner City erwägen die Verlagerung eines Teils ihrer Aktivitäten an Standorte in der EU wie Frankfurt, Luxemburg oder Dublin. Hinzu kommen weitere Beispiele aus diversen Bereichen:
Die Hiobsbotschaften gehen an der Bevölkerung nicht spurlos vorbei. In einer am Wochenende durchgeführten Umfrage zeigten sich 61 Prozent der rund 2000 Befragten besorgt über die Zukunft der britischen Wirtschaft. Analysten erwarten eine Rezession oder zumindest eine deutliche Abkühlung. Es gibt auch Stimmen, die davon ausgehen, dass Britannien langfristig von einem EU-Austritt profitieren könnte. Sie räumen allerdings ein, dass dieser Prozess schmerzhaft verlaufen und neben Gewinnern auch Verlierer erzeugen werde.
Ein rosiges Bild zeichnet der Staubsauger-«König» James Dyson. Er hatte sich als einer von wenigen britischen Unternehmern für den Brexit engagiert und geklagt, die EU fördere aus Rücksicht auf die deutsche Wirtschaft veraltete Technologien. Nun präsentierte er in der «Sun» einen 10-Punkte-Plan für das Post-Brexit-Britannien. Einige Argumente kommen aus Schweizer Sicht bekannt vor. So behauptet Dyson etwa, die EU brauche «uns mehr als wir sie».
Die Stimmen aus der Wirtschaft, die auf den Zugang zum EU-Binnenmarkt pochen, sprechen eine andere Sprache.