Zuerst schien es bloss ein harmloser Gag zu sein, als die junge Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez ihren Plan vorstellte, alle Einkommen, die jährlich die Grenze von zehn Millionen Dollar überschreiten, mit einer Steuer von 70 Prozent zu belegen. Man erinnerte sich an den alten Spruch: Die Reichen zu besteuern ist zwar nutzlos – aber es macht Spass.
Nun aber ist Schluss mit lustig. Selbst die Reichen und Mächtigen am WEF in Davos nehmen AOC Ernst. Gegenüber Bloomberg erklärte Scott Minerd vom Vermögensverwalter Guggenheim Partners, der 265 Milliarden Dollar kontrolliert: «Es ist unheimlich. Spätestens bei den nächsten Präsidentschaftswahlen wird dieser Vorschlag Auftrieb erhalten. Und ich denke, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Steuerplan dieser Art aktuelle Politik werden kann, ist gross.»
Die Angst des Vermögensverwalters ist begründet. Umfragen zeigen, dass AOC mit ihrem Vorschlag den Nerv der Zeit trifft: Nachdem sie ihn in der renommierten TV-Sendung «60 Minutes» vorgestellt hatte, stimmten ihr 59 Prozent zu. Selbst 45 Prozent der republikanischen Wähler äusserten sich positiv.
Die junge Demokratin aus der Bronx beherrscht das Spiel auf den sozialen Medien virtuos und legte sofort nach. «Ich finde es stark, dass einige Leute mehr Angst vor einem Grenzsteuersatz haben als vor der Tatsache, dass 40 Prozent aller Amerikaner kämpfen müssen, um ihre elementaren Bedürfnisse wie Essen und Miete befriedigen zu können», tweetete sie.
Inzwischen wird AOCs Vorschlag in allen US-Medien heftig diskutiert. Er ist keineswegs so radikal, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Die 70-Prozent-Grenzsteuer trifft wie gesagt erst bei einem Jahreseinkommen von zehn Millionen Dollar in Kraft; ein Wert, den nur eine extreme Minderheit erreicht.
Er ist auch nicht neu. Selbst in den USA wurden hohe Einkommen bis in die Achtzigerjahre mit diesem Steuersatz belegt. Heute noch ist ein Grenzsteuersatz von 70 Prozent in den skandinavischen Ländern üblich.
Trotzdem ist AOC über Nacht zur Hassfrau von Trump und Fox News geworden. Sie gilt als Paradebeispiel der angeblichen Radikalisierung der Demokraten. «Es ist eine Schande, was mit den Demokraten passiert», wetterte Trump gestern vor Journalisten. «Sie sind so radikalisiert worden.»
Die Demokraten bewegen sich tatsächlich nach links. Rund 20 Prozent der aktiven Wähler bezeichnen sich heute als «progressiv». Sie knüpfen damit an die Tradition der sogenannten Progressiven an. Sie kämpften vor dem Ersten Weltkrieg für die Zerschlagung der Monopole der Räuber-Barone (Rockefeller & Co.) und vor dem Zweiten Weltkrieg für das Arbeitsbeschaffungsprogramm New Deal.
Die Progressiven sind vor allem beim oberen Mittelstand in den Küstenstädten wie Boston und New York beliebt. Ihre Vorschläge stossen jedoch auch bei den normalen Amerikanerinnen und Amerikanern auf Beifall: Eine Einheitskrankenkasse für alle, Gratis-Studium, Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde – all dies sind Dinge, die sich der Mittelstand landesweit wünscht.
Aus diesem Grund haben die Rechten die Propagandamaschine angeworfen. AOC und die Progressiven würden den amerikanischen Bürgern alles Wertvolle wegnehmen und die USA im Nu in ein neues Venezuela verwandeln, warnen hysterische Fox-News-Kommentatoren wie Sean Hannity mittlerweile täglich.
Der Präsident hat derweil Juan Guaido, den venezuelischen Oppositionsführer, als legitimen Präsidenten anerkannt. (Und sich dabei auf ein gefährliches Abenteuer eingelassen, aber das ist eine andere Geschichte.)
Der Versuch, die Demokraten als radikale Linke und Alexandria Ocasio-Cortez als neue Rosa Luxemburg darzustellen, ist absurd, der Vergleich mit Venezuela grotesk. Die grosse Mehrheit der Demokraten sind nach wie vor etwa so links wie hierzulande die FDP. Wenn die Progressiven irgendjemandem Dank für ihren Erfolg schulden, dann ist es der Präsident selbst.
Trump hat ihre Vorschläge salonfähig gemacht. «Wie sehr die Linksliberalen Amerikas 45. Präsidenten auch verachten mögen», stellt Edward Luce in der «Financial Times» fest, «sie können sich bei ihm bedanken, dass er das vorsichtige Mitte-Denken, das die Demokraten während Generation beherrschte, weggewischt hat.»