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Das Ende der Vernunft

FILE - In this Feb. 28, 2015 file photo, John Oliver speaks at Comedy Central's "Night of Too Many Stars: America Comes Together for Autism Programs" in New York. Jon Stewart's 16- ...
Legt den Finger auf den wunden Punkt: TV-Satiriker John Oliver.
Bild: Charles Sykes/Invision/AP/Invision

«Fakten? Mir doch egal!» – Das Ende der Vernunft

Gefühle werden wichtiger als Fakten. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Die Frage ist, wer das Sagen hat.
27.07.2016, 15:1528.07.2016, 17:12
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Der TV-Satiriker John Oliver zeigte kürzlich in seiner Show einen Ausschnitt aus einem Interview mit Newt Gingrich. Dabei ging es um die Welle des Verbrechens, die derzeit angeblich die Vereinigten Staaten überrollt. Die TV-Moderatorin legte Gingrich eine Statistik vor, die klar zeigt, dass die Kriminalität in den letzten Jahren markant gesunken ist. Das sage gar nichts, wendet Gingrich ein, die Linken würden für alles irgendeine Statistik haben. Die Statistik stamme vom FBI, es handle sich um offizielle Fakten, widerspricht die Moderatorin.

Gingrich lässt sich davon nicht beeindrucken. Es möge ja sein, dass dies Fakten seien, aber er verlasse sich auf das Gefühl der Menschen, und dieses Gefühl sage ihm, dass die Verbrechen zugenommen hätten. Das sei genauso viel wert wie Fakten.  

«Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten.»
Daniel Patrick Moynihan

Newt Gingrich ist eine Art verschärfte US-Version unseres Andreas Glarner, aber er ist kein Amok. In den 90er Jahren war er Fraktionschef der Republikaner und hat den Aufstand gegen Bill Clinton organisiert. Vor vier Jahren war er einer der republikanischen Präsidentschaftsanwärter und dieses Jahr wurde er lange als möglicher Vize von Donald Trump gehandelt. Sollte dieser tatsächlich ins Weisse Haus einziehen, dann hat Gingrich beste Chancen für einen Posten im Kabinett.

Humpty Dumpty in «Alice im Wunderland».
Humpty Dumpty in «Alice im Wunderland».

Das Interview mit Gingrich erinnert an den berühmten Dialog zwischen Alice und Humpty Dumpty im Wunderland. «Wenn ich ein Wort benutze», sagte Humpty Dumpty ziemlich verächtlich, «dann hat es genau die Bedeutung, die ich wähle nicht mehr und nicht weniger.» «Die Frage ist», sagte Alice, «ob man das machen kann, dass Wörter so viel Verschiedenes bedeuten.» «Die Frage ist», sagte Humpty Dumpty, «wer das Sagen hat – das ist alles.»

Tatsächlich reduziert sich die Politik derzeit immer mehr darauf, wer das Sagen hat. Obwohl so genannte Fakten-Checks in allen Medien hoch im Kurs stehen, und jedes Provinzblatt mittlerweile einen Datenjournalisten engagiert hat, sind Fakten zur Nebensache geworden. In den Reden von Donald Trump mischen sich Dichtung und Realität beliebig. Es ist mittlerweile zu einem Ritual geworden, dass man ihm in seinen Reden Dutzende von falschen Fakten nachweisen kann. Seiner Beliebtheit tut dies keinen Abbruch. Hauptsache, seine Fans bekommen das vorgesetzt, was sie fühlen wollen.

Die Verschwörungstheorien-Industrie

Im durch Terroranschläge aufgeheizten Polit-Klima Europas sieht es nicht besser aus. Im Vorfeld der Brexit-Abstimmung wurde gelogen, dass sich die Balken bogen. Den damaligen britischen Justizminister Michael Gove hat dies kalt gelassen. «Die Menschen haben die Schnauze voll von Experten», wischte er faktische Argumente im Sinne von Gingrich vom Tisch.  

Nach dieser Devise handeln Blogger und Online-Kommentatoren aller Couleurs im Internet. Dass dabei die bizarrsten Verschwörungstheorien ins Kraut schiessen, ist die logische Folge davon. Um die These, wonach die USA 9/11 selbst inszeniert haben sollen, ist mittlerweile eine ganze Industrie entstanden.

Hat der russische Geheimdienst die Computer der Demokraten gehackt?

Es wird immer schwieriger, Verschwörungstheorien als solche zu erkennen. Hat der russische Geheimdienst die Computer der demokratischen Partei gehackt und via Wikileaks Mails an die Öffentlichkeit gebracht, die Hillary Clinton schaden? Es gibt plausible Gründe für diese These. Die renommierte «New York Times» beispielsweise hält sie für sehr wahrscheinlich. Wir werden die Wahrheit wahrscheinlich nie wissen.

Genauso wie im Fall des missglückten Militärputsches in der Türkei. Haben die USA mit Hilfe von Fethullah Gülen Präsident Recep Erdogan stürzen wollen? Oder hat Erdogan den Putsch inszeniert, um ihn als Vorwand für eine Abwendung vom Westen und eine Annäherung an Russland zu nutzen?

«Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten», hat der verstorbene US-Senator Daniel Patrick Moynihan einst gesagt. Besser kann man das Vermächtnis der Aufklärung nicht zusammenfassen. Dieses Vermächtnis geht heute vor die Hunde – und das verspricht wenig Gutes.

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123 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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saukaibli
27.07.2016 15:59registriert Februar 2014
Heute interessiert sich doch niemand mehr für Fakten. Das fängt ja schon bei der Werbung an. Früher hat man mit Fakten für ein Produkt geworben, heute wird mit Gefühlen geworben. Als Angestellter zählten früher Leistung und Können, heute muss man sich als seine Firma fühlen, nicht nur dort arbeiten. Wir scheinen geistig wieder auf dem Weg ins Mittelalter zu sein, wo der Glauben alles bestimmte und die Wissenschaft eine Versuchung des Teufels war. Oder wir bewegen uns in Richtung des Filmes "Idiocracy". Beides verspricht wahrlich nichts Gutes.
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Amboss
27.07.2016 15:46registriert April 2014
Ich finde den Text grundsätzlich ziemlich gut.

So richtig öde finde ich aber, dass immer die gleichen "Bösen" aufgelistet werden: Trump und co, Brexit-Befürworter, etc...
Dass diese die Wahrheit nicht so genau nehmen ist ja bekannt - seit Urzeiten.
Intressant wäre es, mal folgende Fragen anzugehen:

- Weshalb gelingt es den genannten so gut, die Leute zu packen? Hat es nicht genau damit zu tun, dass es auch die Regierenden etc... häufig mit den Fakten nicht so genau nehmen (zB Merkels "alternativlos")

- Wieso gelingt es den Linken nicht, die Leute auf diese Weise zu packen?
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Linus Luchs
27.07.2016 17:36registriert Juli 2014
Wie ist es möglich, dass sich Gefühle gegen Fakten durchsetzen? Voraussetzung ist die Ausschaltung des Verstandes, der auf Wissen und Bildung beruht. Francis Bacon prägte den Satz „Wissen ist Macht“, ein Leitsatz der Aufklärung. Entsprechend wurde es zum Ziel, die Wissenschaft zu fördern und die Bildung in allen Gesellschaftsschichten zu verbreiten. Heute orientieren sich Bildungsinhalte an den Anforderungen der Wirtschaft. Bildung ausserhalb dieses Rahmens bleibt auf der Strecke. Die Unterhaltungsindustrie gibt der allgemeinen Unbildung den finalen Schub. Und so triumphieren dann die Gefühle.
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