Bei seinem Abschied aus dem Weissen Haus warnte US-Präsident Barack Obama seinen Nachfolger, dass die Lage in Nordkorea sein dringendstes Problem sei. Er sollte schneller Recht bekommen als ihm lieb sein kann. Der chinesische Aussenminister Wang Yi hat soeben erklärt: «Die USA und Nordkorea rasen wie zwei Züge aufeinander zu, und keiner der beiden scheint gewillt, Konzessionen zu machen. Es stellt sich die Frage: Sind die gerüstet für eine Frontalkollision?»
In den letzten Tagen hat sich die Lage in Ostasien dramatisch verschärft. Zuerst hat Nordkorea gleichzeitig vier Scud-Raketen in Richtung Japan abgefeuert. Alle vier sind in der Lage, Atomsprengköpfe zu transportieren, und könnten auch die amerikanischen Stützpunkte in Japan angreifen.
Das simultane Abfeuern von vier Raketen ist den Nordkoreanern das erste Mal geglückt. Damit erhöht sich die Chance, dass sie den Riegel der amerikanischen Luftabwehr durchbrechen könnten. «An diesem Wochenende haben wir eine Demonstration eines bevorstehenden Simultan-Angriffes erlebt», erläutert Vizeadmiral James D. Syring vom Pentagon. «Das geht über das hinaus, was wir in der Vergangenheit erlebt haben.»
Die Antwort des Pentagons erfolgte umgehend. Die US-Militärs begannen mit dem Aufbau ihres Raketenabwehrsystems THAAD (Terminal High Altitude Area Defense System) in Südkorea. Ob dieses System allfällige Raketen auch abfangen kann, ist umstritten. Sicher ist es zur Abwehr von Langstrecken-Raketen nicht geeignet.
Trotzdem stösst THAAD in Asien auf grosse Ablehnung, in Südkorea selbst, und vor allem in China. Die Südkoreaner fürchten, zu einem atomaren Puffer zwischen den USA und China zu werden – ähnlich wie Deutschland in den Achtzigerjahren nach dem NATO-Doppelbeschluss, bei dem Mittelstreckenraketen in Europa stationiert wurden.
Für Peking ist THAAD eine direkte Bedrohung. Die Chinesen wollen deshalb ihrerseits atomar aufrüsten. John Delury, China-Experte an der Seoul Yonsei University, erklärt im «Guardian»: «Sie sehen das als Teil der regionalen Sicherheitsarchitektur – angeführt von den USA – wobei die USA ihre Militärbasen und Partnerschaften dazu missbrauchen, China immer stärker einzuschnüren. Und das wollen sie verhindern.»
Tatsächlich hat der US-Aussenminister Rex Tillerson bei seiner Vereidigung im Senat erklärt, die Chinesen müssten ihre zu militärischen Zwecken gebauten künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer wieder vernichten, oder die USA müssten ihnen den Zugang verunmöglichen. Diese Äusserungen sind in Peking mit sehr viel Missfallen aufgenommen worden.
Die chinesische Führung nervt sich zwar ebenfalls über Kim Jong Un und seine Provokationen. Deshalb hat sie die Einfuhr von Kohle aus Nordkorea eingestellt. Doch die Angst vor den Amerikanern ist grösser. «Peking hat mehr Vorbehalte gegenüber den amerikanischen Absichten in dieser Gegend als gegenüber den jüngsten Atomversuchen der Nordkoreaner», schreibt die New York Times.
Kim Jong Un nützt geschickt das Zeitfenster aus, das sich ihm geöffnet hat. Der US-Präsident ist mit KremlGate beschäftigt, Washington ist in Aufruhr. Er weiss auch, dass Washington und China sich in der THAAD-Frage niemals einig werden. Beste Gelegenheit also, definitiv zu einer Atommacht aufzusteigen.
Gleichzeitig haben die Nordkoreaner noch ein Ass im Ärmel. Mit ihrer nahe der Grenze installierten Artillerie können sie jederzeit Seoul dem Erdboden gleichmachen. Die Geschütze befinden sich in Bergfestungen und sind praktisch unangreifbar.
Washington seinerseits hat ausser dem Aufbau von THAAD kurzfristig keine Optionen. Das ist wenig tröstlich. Im Weissen Haus sitzt ein Präsident, dessen Geisteszustand zunehmend ernsthaft angezweifelt wird, der sich mit fragwürdigen Beratern umgibt und der Kim schon öffentlich gelobt hat. Die Hoffnungen ruhen deshalb auf den Erwachsenen in der Trump-Regierung: Auf Verteidigungsminister Jim Mattis, auf dem Aussenminister Rex Tillerson und auf dem neuen Sicherheitsberater H. R. McMaster.