Und ewig lockt die Einheitskasse
Der neueste Prämienschub fällt moderater aus als in den Vorjahren. Nächstes Jahr werden die Krankenkassenprämien «nur» um durchschnittlich 4,4 Prozent ansteigen, verkündete Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider letzte Woche. Für viele Menschen ist das ein schwacher Trost, denn das Prämienwachstum reisst Löcher ins Haushaltsbudget.
In einer aktuellen Tamedia-Umfrage gaben 53 Prozent der über 24’000 Befragten an, die steigenden Prämien seien für sie belastend. Weitere 14 Prozent erklärten, sie wüssten nicht oder kaum mehr, wie sie die Rechnungen bezahlen sollten. Nur für 28 Prozent fallen die Prämien kaum ins Gewicht. Allerdings basiert diese Befragung auf Selbstdeklaration.
Es bleibt offen, wie die Belastung real ist, oder ob es «Phantomschmerzen» sind. In der Tendenz aber trifft dieser Befund zweifellos zu, und nirgends so deutlich wie im Tessin, dem Kanton mit den tiefsten Löhnen und den höchsten Krankenkassenprämien der Schweiz. Am letzten Abstimmungssonntag griff das Stimmvolk quasi zur Selbsthilfe.
Minus von 500 Millionen
Es nahm gleich zwei Volksinitiativen an, die Erleichterung bei den Prämien versprechen. Das betrifft eine kantonale Variante der letztes Jahr auf nationaler Ebene gescheiterten 10-Prozent-Initiative der SP. Noch klarer zugestimmt wurde einer Initiative der rechtspopulistischen Lega, die höhere Steuerabzüge für Versicherungsprämien fordert.
Die Tessiner Regierung warnte vergeblich vor den Folgekosten, die auf rund 400 Millionen Franken geschätzt werden. Weitere 100 Millionen dürfte der Südkanton mit den vielen Zweitliegenschaften durch die Abschaffung des Eigenmietwerts verlieren. Daraus ergibt sich ein Minus von 500 Millionen – sehr viel für einen Kanton mit 350’000 Einwohnern.
«Ineffizient und teuer»
Als Begründung für die hohen Tessiner Prämien werden die vielen Seniorinnen und Senioren genannt, etwa Deutschschweizer, die ihren Ruhestand in der «Sonnenstube» verbringen. Der Gesundheitsökonom Igor Francetic allerdings verwies gegenüber watson auf einen weiteren Aspekt: Der Kanton leiste sich vier grosse Spitäler, «das ist ineffizient und teuer».
Hinzu kommen diverse weitere Kliniken. Eine Zusammenlegung wäre sinnvoll, doch das wollten viele Leute nicht, was der Konsumentenschützer und Journalist Matteo Cheda mit Sarkasmus kommentierte: «Sie wollen lieber in einem kleinen Spital in ihrer Nachbarschaft sterben, als in einem grossen Spital zu überleben, das ein wenig weiter weg ist.»
Nur GLP-Basis dafür
Man könnte dies als Ausdruck des ausgeprägten Tessiner «Regiönligeistes» interpretieren, doch eine solche Anspruchshaltung findet man im ganzen Land. Das zeigt die Tamedia-Umfrage, in der auch nach einer Reduktion der rund 250 Kliniken in der Schweiz gefragt wurde. Sie hätte nach Ansicht von Experten einen starken Effekt auf die Prämien.
Allein, bloss 36 Prozent sprachen sich für Spitalschliessungen aus und 56 Prozent dagegen. Politisch findet das Anliegen einzig an der Basis der Grünliberalen eine Mehrheit. Am deutlichsten dagegen ist der Anhang der SVP. Er lebt überwiegend im ländlichen Raum, und gerade dort ist der Widerstand gegen die Schliessung von Spitälern besonders gross.
Krankenkassen als Sündenbock
Darin zeigt sich der Stadt-Land-Graben, aber auch eine Anspruchsmentalität, die durch das permanente Prämienwachstum noch geschürt wird, nach dem Motto: Wenn wir immer mehr bezahlen müssen, dann wollen wir etwas dafür erhalten.
Reformen im Gesundheitswesen haben es auch deshalb seit Jahren schwer, vor allem wenn sie mit einem Leistungsabbau verbunden sind. Das Ja zur einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Spitalbehandlungen vor einem Jahr war ein seltener Lichtblick. Als «Sündenbock» für den Prämienfrust bieten sich deshalb die Krankenkassen an.
Neuer Einheitsverband
Mehrere Anläufe für eine öffentliche Einheitskrankenkasse sind beim Stimmvolk gescheitert, doch mit dem unaufhörlichen Prämienanstieg wird das Anliegen mehrheitsfähig. In der aktuellen Tamedia-Umfrage sagten 68 Prozent sicher oder eher ja zur Einheitskasse. In einer watson-Umfrage vor zwei Jahren sprachen sich sogar 79 Prozent dafür aus.
Weitere Erhebungen zeigen ein praktisch identisches Bild. Die lange zerstrittenen Krankenversicherer haben sich deshalb Anfang des Jahres zum neuen Einheitsverband prio.swiss zusammengeschlossen. Ob sie den Trend zur Einheitskasse damit aufhalten können, scheint fraglich. Dabei hält sich der mögliche Spareffekt in Grenzen.
SP erwägt Initiative
Gemäss einer am Dienstag veröffentlichten Auswertung des Finanzdienstleisters Moneyland betrugen die Verwaltungskosten für die obligatorische Grundversicherung 2024 im Durchschnitt 190 Franken pro Person. Das sind weniger als 16 Franken pro Monat. Eine Einheitskasse wäre wohl günstiger, aber allzu viel darf man nicht erwarten.
Eine Prämiensenkung um zehn Prozent, die Befürworter in Aussicht stellen, scheint unrealistisch. Für die Gegner ändert sich mit der Einheitskasse nichts an den steigenden Behandlungskosten. Im Raum steht ein Test mit einer kantonalen Einheitskasse, doch eine entsprechende Genfer Standesinitiative wurde letztes Jahr im Ständerat abgelehnt.
Die SP erwägt einen neuen Anlauf mit einer Volksinitiative, eventuell verbunden mit stärker am Einkommen orientierten Krankenkassenprämien. Derartige Massnahmen aber bleiben Symptombekämpfung, solange die Akteure im Gesundheitswesen jede Reform bekämpfen, die ihren Besitzstand gefährdet. Und wir gleichzeitig keine Abstriche akzeptieren wollen.