Herr Hässig, bei der krisengeschüttelten Raiffeisen-Bank ist der langjährige Verwaltungsratspräsident Johannes Rüegg-Stürm zurückgetreten. Ist der Bank damit ein Befreiungsschlag gelungen?
Lukas Hässig: Nein, damit ist es sicher nicht getan. Das Problem bei der Raiffeisen ist es, dass sie seit dem Ausbruch der Affäre nie wirklich bereit gewesen ist, die Geschehnisse vollständig zu untersuchen. Dadurch handelte die Bank stets aus der Defensive heraus. Das war auch bei der Ablösung von Rüegg-Stürm durch Pascal Gantenbein so.
Der neue Verwaltungsratspräsident gehört dem Gremium erst seit 2017 an und ist damit unbelastet von der Ära Vincenz. Hilft ihm das in der jetzigen Krise?
Tatsächlich ist Gantenbein persönlich nicht vorbelastet. Das gibt ihm sicherlich mehr Freiheiten, die Vergangenheit kritisch zu beleuchten. Wer genau zugehört hat an der heutigen Pressekonferenz, der merkte: Gantenbein lässt sich alle Optionen offen. Zwar hat er CEO Patrik Gisel momentan das Vertrauen ausgesprochen. Sollte Gisel aber im Zusammenhang mit den möglichen Straftaten seines Vorgängers Pierin Vincenz zusätzlich belastet werden, würde Gantenbein nicht zögern, sich von ihm zu trennen. Davon bin ich überzeugt.
Weshalb hat die Raiffeisen-Bank nur den Präsidenten ausgewechselt und nicht den CEO? Patrik Gisel war schliesslich 14 Jahre lang Vincenz’ Stellvertreter und stand teilweise an der Spitze jener Firmen, bei deren Übernahme sich Vincenz bereichert haben soll.
Gisels Verbleib im Amt ist taktischen Überlegungen geschuldet. Die Führungsriege bei Raiffeisen ist stark angeschlagen. Wenn man jetzt Gisel durch einen internen Nachfolger ersetzt, prasselt die Kritik einfach auf den Nächsten ein. Damit wird dieser zum Gesicht der Krise und schnell verheizt. Kritiker zielen auf den Captain, der dadurch Druck vom Rest der Mannschaft nehmen kann.
Also sitzt Gisel paradoxerweise fest im Sattel?
Nein. Jedem, der sich mit Raiffeisen befasst, ist klar: Es wird einen Wechsel an der Konzernspitze geben. Ich bin überzeugt, dass die Suche nach einem externen Nachfolger läuft. Aber eine seriöse Nachfolgeregelung braucht Zeit. Das erinnert an die Ablösung von Marcel Rohner an der UBS-Spitze. Während dem Höhepunkt der Finanzkrise dachten alle, Rohner sei bald weg vom Fenster. Schliesslich dauerte es bis im Februar 2009, als ihn Oswald Grübel als CEO ablöste.
Der Verwaltungsrat geriet in die Kritik, weil er bei den Machenschaften von Pierin Vincenz zu wenig genau hinschaute. Wann hätte er merken müssen, dass etwas falsch läuft?
Bereits 2009 gab es offenbar Hinweise auf Unregelmässigkeiten bei der Übernahme der Softwarefirma Commtrain Card Solutions im Jahr 2007. Schliesslich wurde eine interne Untersuchung in die Wege geleitet. Vincenz verhinderte damals mit Hilfe seiner Anwälte eine kritische Berichterstattung. Da hätten beim Verwaltungsrat die Alarmglocken schrillen müssen. Im April 2016 berichtete ich dann auf «Inside Paradeplatz» zum ersten Mal über eine mögliche Zahlung an Vincenz im Zusammenhang mit einer Firmenübernahme durch Raiffeisen. Im Juli desselben Jahres nannte ich die konkrete Zahlung. Seither sind über anderthalb Jahre vergangen.
Wie konnte das System Vincenz so lange ungestört funktionieren? Waren es institutionelle Mängel oder lag es an der Persönlichkeit von Vincenz?
Auf der einen Seite sind es sicher institutionelle Mängel auf Ebene der Corporate Governance. Damit befasst sich die Finma und hier verspricht der neue Raiffeisen-Präsident Gantenbein Verbesserungen. Aber das alleine erklärt die Vorgänge bei der Raiffeisen nicht. Bei Vincenz’ Geschäften hörte man während Jahren, dass irgendetwas nicht stimmt. Die Figur von Beat Stocker etwa, einem Compagnon von Vincenz, tauchte immer wieder bei Firmenübernahmen durch die Raiffeisen auf. Das war verdächtig.
Weshalb drang nicht viel mehr darüber nach aussen?
Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, die zentrale Frage ist, wer alles von Vincenz profitieren konnte. Nicht unbedingt in einer strafrechtlich relevanten Weise. Hinzu kommt das Machtgefälle. Wer beispielsweise dafür befördert wurde, nicht allzu genau hinzuschauen, der überlegt sich zweimal, seinen CEO zu verpfeifen.
Wie viel wusste Vincenz’ Nachfolger Patrik Gisel als damaliger Vize?
Das ist noch nicht endgültig geklärt. Gisel war seit 2012 Präsident der Investnet. Bei der Übernahme dieser Investmentfirma durch Raiffeisen soll sich Vincenz bereichert haben. Bisher stellte sich Gisel auf den Standpunkt, von Vincenz und seinen Partnern getäuscht worden zu sein. Er sei selbst Opfer. Wie mein Artikel über einen Deloitte-Prüfungsbericht aus dem Frühling 2017 zeigt, ist das falsch. Gisel hat sich beim Investnet-Deal nie für die Rolle des Vincenz-Compagnons Beat Stocker interessiert, steht in diesem Bericht.
Muss der Verwaltungsrat aufgrund dieser Erkenntnisse jetzt nochmals überlegen, ob Gisel wirklich noch tragbar ist?
Dass wir überhaupt darüber diskutieren, zeigt, wie prekär seine Situation ist. Seine langjährige Nähe zu Vincenz macht ihn angreifbar. Viele betrachten Gisel als Belastung für die Glaubwürdigkeit eines Neustarts bei der Raiffeisen.
Also ist die Taktik falsch, Gisel als Blitzableiter zu behalten?
Die Überlegung des Verwaltungsrates ist grundsätzlich richtig. Mit einem überhasteten Wechsel an der Führungsspitze gerät die Bank vom Regen in die Traufe. Aber die Lagebeurteilung kann sich jederzeit ändern. Je nachdem, was über Gisels Rolle noch bekannt wird.