Kevin Spacey wird aus dem fertigen Film «All the Money in the World» von Ridley Scott herausgeschnitten – nur einige Wochen vor dem Kinostart. Innerhalb von neun Tagen hat der Regisseur Spacey mit Christopher Plummer ersetzt und die neuen Szenen in seinen Streifen montiert. Für sechs Millionen Dollar.
Wäre dies nicht geschehen, so hätte das Filmteam 45 Millionen Dollar verloren, sagt Scott in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Er meint, es sei die richtige Entscheidung gewesen. «Eine dringend notwendige Reinigung der Branche». Spacey habe das ganze Kunstwerk zerstört, «die grossartige Arbeit so vieler Leute kaputt gemacht». Und doch ist der Regisseur der Ansicht, man solle die Person von ihrem Werk trennen. Als Beispiel nennt er den Maler Balthus, der besessen gewesen sei von kleinen Mädchen, die immer wieder auf seinen teils wunderbaren, teils verstörenden Gemälden auftauchten.
Ja, was denn nun? Der Regisseur hat Kevin Spacey doch aufgrund der mutmasslichen sexuellen Übergriffe auf junge Schauspieler aus seinem Film gestrichen.
Und doch sagt er:
Ausser es geht um 45 Millionen Dollar. Für die US-amerikanische Journalistin Amanda Hess scheint eine Trennung zwischen Kunst und Künstler in der Filmindustrie sowieso kaum möglich, weil sie die Verschmelzung selbst vorantreibe – solange damit Geld gemacht werden kann.
Ein Schauspieler ist Teil dieser Industrie, und diese Industrie hat auch ein systemimmanentes Problem: Kevin Spacey platzierte sein Coming Out just in dem Moment, als die ersten Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen ihn laut wurden.
— Kevin Spacey (@KevinSpacey) 30. Oktober 2017
Was aber machen wir als Kunst-Konsumenten mit der Moral, die so ohrenbetäubend, empört und dabei die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung niedertrampelnd, an unser Gewissen appelliert? Was machen wir mit all den grandiosen Werken, die von Grüseln geschaffen wurden?
Im Falle von «All the Money in the World» wurde uns die Entscheidung abgenommen. Wir können ohne Bedenken ins Kino gehen, Spacey – schuldig oder nicht – wird unser Kinobesuch nicht zugute kommen.
Ist das Herausschneiden eines mit Belästigungsvorwürfen konfrontierten Schauspielers eine Lösung? Und wenn ja, ...
Diese Drastik verlangen wohl die wenigsten. Als Gedankenexperiment gäbe es da noch eine andere Möglichkeit: An Warnungen bezüglich des gewalttätigen Inhalts eines Films sind wir uns gewohnt. Wie wäre es also, würde im Vorspann auf die (bewiesenen!) sexuellen Vergehen des Protagonisten oder Regisseurs hingewiesen?
Die einen würden wahrscheinlich rufen: «Wie absurd! Ich schaue den Film ja gerade, weil ich mich in diese illusorische Filmwelt stürzen will! Da will ich nicht damit konfrontiert werden, welches Fehlverhalten der Schauspieler in seinem Privatleben an den Tag gelegt hat. Hier spielt er eine Rolle.»
Und die anderen würden antworten: «Eine sehr gute Idee, so würde jedem Zuschauer gleich bewusst, aus welchem Holz der Mann geschnitzt ist, den er da auf der Leinwand bewundert. Dank einer solchen Transparenz kann jeder selbst entscheiden, wie er darauf reagieren will.»
Die Filme grosser Männer umgeben eine fast schon heilige, unantastbare Aura. Woody Allen, den man so gern in der Rolle des neurotischen Dauerverlierers sieht, über dessen intelligenten Witze man so laut lacht.
Und doch erinnert seine Sexbeziehung zur 17-jährigen High-School-Schülerin Tracy (Mariel Hemingway) in «Manhattan» so manchen unangenehm an den Anfang der Geschichte seiner jetzigen Ehefrau Soon-Yi Previn – als sie vor allem die 21-jährige Adoptivtochter seiner damaligen Ehefrau Mia Farrow war. Und er, der wahrscheinlich berühmteste Filmemacher der Welt, der mit ihr schlief, weil «the heart wants what it wants» (Woody Allen).
Es erinnert ebenso an die Vorwürfe, die Mia Farrow im Zuge des Sorgerechtstreits gegen Allens erhob: Er habe die 7-jährige gemeinsame Adoptivtochter Dylan sexuell missbraucht. Das Strafverfahren gegen ihn wurde aufgrund des Kindeswohls eingestellt. Doch die Schlacht wird bis heute weiter ausgefochten – in den Medien.
Der machtlose Leinwand-Woody-Allen wird so in manch einem Kopf plötzlich zum Mächtigen, ja zum Machtmissbraucher. Nur, was machen wir nun damit? Sind deswegen seine Filme weniger sehenswert?
Vielleicht sollten wir diese Kunstschätze auch vor jeglichen Eingriffen schützen. Sie wie ein denkmalgeschütztes Gebäude behandeln, dessen Stützbalken zwar angeknickst sein mag, aber das Haus noch immer vor dem Einstürzen bewahrt. So wird jedem gänzlich selbst überlassen, ob und wie er das Gebäude betrachten will.
Die amerikanische Autorin Claire Dederer schreibt in The Paris Review über ihr persönliches «Urmonster» Woody Allen, dessen Werk sie lange Zeit uneingeschränkt bewunderte. Sie schreibt davon, wie emotional ihre Reaktion war auf das, was dieser Mann Schreckliches getan habe, und ganz besonders auf die gruseligen Parallelen, die sie zwischen seinem Film «Manhattan» und seiner Biographie aufstöberte.
Es geht also in erster Linie um die Gefühle des Kunst-Konsumenten. Um die persönliche Moral – und deren Integrität. Man kann sich fragen: «Fühle ich mich wie ein Arsch, wenn ich ‹Manhattan› schaue? Kann ich mit dieser Zwiespältigkeit leben, dass ich den Film grandios finde, den Macher aber verachte? Oder ist es mir einerlei, was der Künstler in seinem Leben verbrochen hat, weil ich sein Produkt unabhängig von seinem Leben betrachte?»
Daraus ergäben sich dann für jeden ganz persönliche Konsequenzen. Wir würden wie bisher die gesetzliche Gerechtigkeit über die Grüsel walten lassen, unsere Moral aber nicht zu einem ähnlich strafenden System ausbauen. Denn würde das geschehen, würden wir einem «moralischen Totalitarismus» Platz machen, wie es die deutsche Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin Thea Dorn formuliert.
Oder mit den Worten eines Kunstmuseumsdirektors gesagt:
«Comedy is tragedy plus time», dieses Zitat wird unter anderem auch Woody Allen zugeschrieben. Möglicherweise verhält es sich mit der Kunst ähnlich. Sobald ein grosser Künstler unter der Erde liegt, spielt es für die Mehrheit keine Rolle mehr, was dieser zu Lebzeiten getrieben hat. Die Kunst wird frei von seinem Macher. Und je länger er tot ist, umso freier wird seine künstlerische Hinterlassenschaft.
Heute hört man kaum jemand sagen: «Sicher schau ich mir kein Gemälde von Caravaggio (1571–1610) an, der Typ hat einen Mann mit einem Messer niedergestochen – wegen einer verlorenen Wette!»
Oder: «Rembrandt (1606–1669) boykottiere ich, er hat seine Ex-Geliebte jahrelang ins Gefängnis gesperrt – weil er den ihr zugesprochenen Unterhalt wegen seines gebrochenen Heiratsversprechens nicht zahlen wollte!»
Die Kirche hat damals dem flüchtigen Caravaggio ein Gnadengesuch ausgestellt, damit der bewunderte Maler wieder in ihren römischen Schoss zurückkehrt – und sein Talent in ihre Dienste stellt. Allerdings verstarb Caravaggio kurz bevor der päpstliche Heilsbrief bei ihm eintraf.
Für Harvey Weinstein und Kevin Spacey ist die Zeit solcher Freipässe vorbei. Sie sind Täter im Heute. Und die #Metoo-Bewegung hat ihre Vergehen ans Licht gezerrt, sie stellvertretend für alle machtmissbrauchenden Männer öffentlich hingerichtet. Die Frage ist nur, ob ihre künstlerische Arbeiten auch mit aufs Schafott müssen.
Nun ist natürlich ein Produzent nicht dasselbe wie ein Regisseur, und der Schauspieler der Einzige, den man in einem Film wirklich zu sehen bekommt. Vielleicht betreibt er gar «Method Acting», strebt also eine naturalistische Darstellung seines Schauspiels an, indem er eigene Erlebnisse aktiviert, um mit seiner Rolle zu verschmelzen.
Der Schauspieler ist für den Zuschauer, wenn auch nie ganz, so doch greif- oder zumindest fühlbar. An ihm sind wir auch näher dran als an einem Schriftsteller, der meist sehr unsichtbar bleibt hinter seinem Werk.
Vor allem seit der französische Literaturkritiker Rolandes Barthes 1968 den Tod des Autors postulierte. Es war seine Antwort auf den traditionellen Biographismus, bei dem man sich bei jeder Buchbesprechung sofort auf das Leben des Autors stürzte, um das Werk zu interpretieren. Barthes wollte den Text vom Autor befreien. Literatur entsteht nach ihm erst beim Lesen. Der Sinn könne ganz allein vom Leser erzeugt werden.
Für viele war Barthes Theorie zu radikal, sie holten den Autor, oder zumindest Stücke von ihm, wieder zurück. Doch vielleicht können wir seinem Gedanken für unser Problem dennoch etwas abgewinnen:
Jeder von uns ist ein Leser, ein Hörer, ein Zuschauer. Wir sind die Kunst-Empfänger. Wir entscheiden, was uns gefällt und wie wir ein Kunstwerk verstehen. So wie es jedem selbst überlassen werden soll, ob er weiterhin Spacey-Filme gucken will.
Oder sich das Bild der träumenden Therese von Balthus im New Yorker Metropolitan Museum (Met) anzusehen. Auch, oder gerade in Zeiten der #Metoo-Debatte sollte das möglich sein. So entschied dann die Direktion des Museums auch, sich dem Wunsch der 10'000 Unterschriften starken Petition nicht zu beugen. Sie forderte das Abhängen des Gemäldes, weil es sich hier um «Objektivierung und Sexualisierung eines Mädchens» handle.
Und da ist es wieder. Jemand – oder in diesem Fall 10'000 Leute – scheinen es besser zu wissen, und wollen allen anderen sagen, wie dieses Bild zu interpretieren sei, anstatt darauf zu vertrauen, dass ein solches Gemälde in einem Museum schon mit entsprechendem Hintergrundwissen versehen wird. Es zu verstecken, bringt keine Diskussion und keine Einordnung. Wie wär's beispielsweise, man würde neben dem Gemälde einen Twitter-Feed laufen lassen, der es in den modernen Kontext verfrachtet, in die aktuelle Diskussion um Sexualisierung und Machtverhältnisse einbettet. Die gesellschaftliche Veränderung sollte thematisiert und nicht verunmöglicht werden. Dieses Sichtbarmachen kann die bildende Kunst doch besonders gut leisten.
Es gibt viele Grüsel auf der Welt. Und man sollte die Welt vor ihnen beschützen. Ihre Kunstwerke aber bieten auch den Raum, wo wichtige gesellschaftliche Debatten geführt werden können. Auch vom Abgründigen lernen wir etwas über uns selbst. Von der Kunst von Grüseln oder von «grüsliger» Kunst. Vielleicht sogar mehr, als uns lieb ist.