In kürzester Zeit hat sich die Ende November im südlichen Afrika erstmals nachgewiesene Omikron-Variante des Coronavirus weltweit verbreitet. Mittlerweile macht sie in der Schweiz bereits mehr als die Hälfte aller Neuansteckungen aus. Die neue Variante weist selbst im Vergleich zur bisher dominierenden Delta-Variante – die wiederum ansteckender ist als der ursprüngliche Wildtyp des Virus – eine erhöhte Ansteckungsfähigkeit auf, könnte aber gemäss vorläufigen Erkenntnissen insgesamt eher weniger gefährliche Krankheitsverläufe verursachen als jene.
Dies könnte daran liegen, dass Omikron-Viren sich in den Bronchialzellen sehr viel schneller als Delta-Viren vermehren, in Lungenzellen hingegen deutlich langsamer. Von den Bronchien aus gelangen Viren leichter in die Umwelt als aus den Lungen. Zudem scheinen Omikron-Viren weniger leicht in Lungenzellen eindringen zu können, was die Gefahr schwerer Verläufe möglicherweise mildert. Neben diesen Faktoren spielt aber auch die Übertragung durch Aerosole (feste oder flüssige Schwebeteilchen in der Luft) eine womöglich entscheidende, bisher unterschätzte Rolle.
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Wie bei anderen Infektionskrankheiten, die primär durch die sogenannte Tröpfcheninfektion übertragen werden – dazu zählen vornehmlich akute respiratorische Erkrankungen wie Grippe oder Tuberkulose, aber auch Masern oder Scharlach –, erfolgt die Übertragung bei Covid-19 überwiegend durch die Luft. Beim Niesen, Husten, Sprechen oder Singen gelangen winzige Speichel- und Schleim-Tröpfchen, die den Erreger enthalten, an die Luft und werden danach von anderen Personen eingeatmet oder direkt über die Schleimhäute der oberen Luftwege aufgenommen.
Diese Tröpfchen sind von sehr unterschiedlichen Grössen. Im medizinischen Bereich unterscheidet man zwischen eigentlichen Tröpfchen und Aerosolen, wobei es keine scharfe Grenze gibt. Tröpfchen, die einen Durchmesser von mehr als 5 µm (1 µm entspricht 0,001 mm) haben und vor allem beim Husten oder Niesen abgesondert werden, sinken in der Luft rasch ab. Sie werden daher nur bis zu einer Distanz von gut einem Meter übertragen. Aerosole, sehr kleine Partikel von weniger als 5 µm Grösse, die bereits beim Sprechen oder blossen Ausatmen produziert werden, können hingegen lange Zeit in der Luft schweben und sich über grössere Distanzen verteilen. Die kleinsten sind so winzig, dass sie nur gerade ein einziges Virus enthalten können.
Die Übertragung von Covid-19 durch Aerosole war zu Beginn umstritten, auch da sie tendenziell weniger Viren enthalten als grössere Tröpfchen. Durch ihre längere Verweildauer in der Luft und die grösseren Distanzen, die sie zurücklegen können, stellen sie trotzdem ein Infektionsrisiko dar. Mittlerweile gibt es Beispiele, bei der eine Übertragung durch Aerosole nachweislich stattfand – so eine Chorprobe im US-Bundesstaat Washington, ein Kirchenchor in Australien oder etwa beim Jodlerfest in Schwyz im Oktober 2020. Dort besuchten rund 600 Personen die beiden Vorstellungen. Die Vorsichtsmassnahmen wurden laut Veranstalter eingehalten, allerdings habe es im Jodelchor infizerte Personen gegeben.
Dies bestätigen auch zwei rezente Studien. Eine neue Meta-Studie, die im Oktober als Preprint erschienen ist, fand in 12 der 13 berücksichtigten epidemiologischen Untersuchungen deutliche Hinweise auf eine Übertragung in der Luft über Distanzen von mehr als zwei Metern hinweg. Und eine noch nicht von Experten geprüfte Studie, die im Dezember im Journal «Emerging Infectious Diseases» der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) vorveröffentlicht wurde, beschreibt die Ansteckung durch Aerosole in einer Quarantäne-Station eines neuseeländischen Flughafens im Juni dieses Jahres.
#Airborne spread of SARSCoV2 from an asymptomatic patient to group of 3 people who were staying in rooms across a corridor from patient.
— Dr. Ali Nouri (@AliNouriPhD) December 30, 2021
There was no direct contact. Security camera showed simultaneous door openings of the rooms 4 times, for 3-5 sec each. https://t.co/DNcfQSiu4W pic.twitter.com/TncrgNxsVe
Die Infektion über Aerosole ist bei Covid-19 mithin unterschätzt worden. Dieser Übertragungsweg scheint besonders bei der Delta-Variante eine wichtige Rolle zu spielen; dies dürfte im Fall der hochansteckenden Omikron-Variante noch stärker ausgeprägt sein, wie ein aktuelles, in «Emerging Infectious Diseases» vorveröffentlichtes Papier zeigt, das die Übertragung von Omikron-Viren in einem Quarantäne-Hotel in Hongkong zu Beginn der Omikron-Welle Ende November nachzeichnet.
Eine Preprint-Studie der University of California in San Diego wirft nun Licht auf die Frage, wie SARS-CoV-2 durch Aerosole übertragen wird. Sie könnte eine Erklärung dafür bieten, warum sich spezifisch die Delta-Variante – und möglicherweise mehr noch die Omikron-Variante – derart schnell ausbreiten konnten. Die Biochemikerin Rommie Amaro und ihr Team von 52 Wissenschaftlern aus aller Welt modellierten am Computer zum ersten Mal ein Coronavirus innerhalb eines Aerosols und analysierten das Verhalten dieses Tandems. «Ein Virus in einen Tropfen Wasser zu geben gab es noch nie zuvor», sagte Amaro der «New York Times». Ihre Arbeit stellten die Wissenschaftler im November an der International Conference for High Performance Computing, Networking, Storage, and Analysis in St. Louis vor.
Das Team um Amaro gewann bereits im Vorjahr mit der Modellierung der Atomstruktur von SARS-CoV-2 und dessen Spike-Protein den Gordon Bell Prize der Association for Computing Machinery. Diese Arbeit vertiefte die Einsicht in das Verhalten des Virus sowie die Art und Weise, wie es in menschliche Zellen eindringt. Für die Modellierung des Aerosols griff das Team nun auf Untersuchungen von Kim Prather zurück. Die Atmosphärenchemikerin leitet das Center for Aerosol Impacts on Chemistry of the Environment (CAICE) und befasst sich mit Meerwasser-Aerosolen.
Aerosole, die aus unserer Lunge in die Umwelt gelangen, enthalten nicht nur Wasser, sondern zusätzlich eine Reihe von Bestandteilen, die ebenfalls in das Modell integriert werden mussten. Dabei handelt es sich vornehmlich um Muzine, Surfactant, Lungenflüssigkeit und Kalzium-Ionen.
In das Modell eines Aerosols auf Grundlage von Daten aus Prathers Arbeiten fügten die Wissenschaftler dann ihr Virus-Modell ein. Dies wiederum basierte auf ihrer Modellierung des Wildtyps aus dem Vorjahr, dem sie nun die Spike-Proteine der Delta-Variante hinzufügten. Das fertige Modell – ein virtuelles Tröpfchen mit einem Viertel-Mikrometer-Durchmesser – besteht aus 1,05 Milliarden Atomen. Es berücksichtigt auch die Wechselwirkungen aller Bestandteile innerhalb des Aerosols, etwa Atomkollisionen und elektrische Ladungen. Es handelt sich um eines der umfangreichsten biochemischen Systeme, die bisher auf atomarer Ebene simuliert wurden.
Die digitale Modellierung auf Ebene der Atome erlaubt einen einzigartigen Blick auf die Partikel, wie ihn kein anderes Instrument ermöglicht – auch nicht ein Elektronenmikroskop. Amaro nennt das Verfahren daher auch ein «computational microscope» («Computermikroskop»).
Um die ungeheure Datenmenge zu bewältigen, nutzte die Forschergruppe den schnellsten amerikanischen Supercomputer im Oak Ridge National Laboratory (ORNL), derzeit der zweitschnellste der Welt. Die Rechenzeit am Supercomputer ist allerdings begrenzt; das Team konnte lediglich vier Simulationen zu je gut 12 Stunden durchführen.
Nachdem sich erste Simulationen aufgrund winziger Fehler als instabil erwiesen hatten, gelang es dem Team, das Modell so anzupassen, dass die folgenden Durchläufe brauchbare Daten lieferten. Das Ergebnis war ein Film aus Millionen von Einzelbildern, der das Geschehen im Aerosol für die Zeitspanne von zehn Milliardstelsekunden abbildete.
Und dieses Geschehen offenbarte Erstaunliches: So zeigte sich, dass sich die Muzine nicht zufällig innerhalb des Aerosols bewegten. Sie wurden, da sie negativ geladen sind, von den positiv geladenen Spike-Proteinen des Virus angezogen. Amaro interpretiert die Muzine als eine Art Schutzschild für das Virus: «Wir denken, dass es sich tatsächlich mit diesen Muzinen bedeckt und dies während des Fluges wie eine Schutzschicht wirkt.» Sie nimmt an, dass die Muzine das Virus zurück ins Innere des Aerosols stossen, wenn es zu nahe an dessen Oberfläche gelangt.
Für Viren, und das gilt auch SARS-CoV-2, ist die Reise in einem solchen Aerosol oft fatal. Sie werden durch Umwelteinflüsse inaktiviert oder zerstört – etwa wenn das Aerosol verdampft und die Luft die Molekularstruktur des Erregers angreift oder er Licht ausgesetzt ist. Auch die chemischen Substanzen im Aerosol können das Virus beschädigen. Viren, die aus Aerosolen gewonnen werden, sind daher oft so beschädigt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, Zellen zu infizieren.
Hier sieht Amaro einen möglichen Grund für die höhere Übertragungsrate der Delta-Variante – und eventuell auch der neuen Omikron-Variante. Die Spike-Proteine der Delta-Variante sind nämlich im Vergleich zum Wildtyp und anderen, früheren Varianten von SARS-CoV-2 stärker positiv geladen. Dies führt dazu, dass sich die Muzine stärker an dieses Protein anlagern und das Virus so besser schützen könnten.
Die Spike-Proteine der Omikron-Variante sind, wie Amaro betont, noch stärker positiv geladen als jene der Delta-Viren. Neben weiteren, durch Mutationen erworbenen strukturellen Eigenschaften der Omikron-Variante könnte dies ebenfalls ein Faktor sein, der ihre rasante Verbreitung erklärt.
Der Biologe und ehemalige «Netz Natur»-Moderator Andreas Moser, der eine Kompetenz- und Wissensplattform für Naturfragen betreibt, hält die Erkenntnisse des kalifornischen Forscherteams für bahnbrechend. Die Sequenzierung des Virus bis auf die Atomebene und die Modellierung in einem Supercomputer sei präziser als jede optische Abbildung und erlaube auch bewegte Simulationen von Vorgängen, sagt er watson. Es handle sich um eine zukunftsweisende Technologie, die dank Digitalisierung überhaupt erst möglich werde.
Zudem wirft Moser für die Praxis die Frage auf, ob allenfalls die durch Amaro entdeckte, biochemische Bindungsfähigkeit der stark infektiösen Omikron-Variante bei der enormen Ausbreitungsgeschwindigkeit eine Rolle spielt, wenn sich Aerosole mit Luftschadstoffen verbinden, wie sie in Ballungszentren während der Winterzeit häufig auftreten.
Neben dem Verhalten der Muzine untersuchte das Team auch Bewegungen des Spike-Proteins. Hier nutzten die Wissenschaftler mit dem DeepDriveMD-Code künstliche Intelligenz. Die Berechnungen wurden auf dem Frontera-Supercomputer am Texas Advanced Computing Center durchgeführt. Die Ergebnisse zeigten, dass die Delta-Variante ihr Spike-Protein deutlich besser öffnen kann als der Coronavirus-Wildtyp. Das bedeutet, dass sich diese Virus-Variante leichter an menschliche Zellen binden und sie infizieren kann. Dies ist ein weiterer Faktor, der zur Erklärung der hohen Infektiösität der Delta-Viren beiträgt.
Amaro vermutet, dass es für das Virus nicht vorteilhaft ist, wenn sich ein Spike-Protein schon öffnet, wenn sich der Erreger noch innerhalb des Aerosols befindet – die weite Öffnung würde als Eintrittspforte für chemische Substanzen dienen, die das Virus zerstören könnten. Die Biochemikerin nimmt an, dass bestimmte Surfactant-Moleküle, die im Aerosol umherschwimmen, in eine Vertiefung an der Spitze des Spike-Proteins passen und es auf diese Weise während des Aufenthalts im Aerosol geschlossen halten.
Diesen Mechanismus wollen die Wissenschaftler mit weiteren Simulationen aufklären. Sie planen, den Zeitrahmen der Simulation dafür auf das Hundertfache auszuweiten – von zehn Milliardstelsekunden auf eine Millionstelsekunde. Auch dem Einfluss eines niedrigeren pH-Werts auf das Spike-Protein will das Team mit weiteren Simulationen nachgehen. Dafür nutzen die Wissenschaftler das neue Bridges-2-System im Supercomputing Center in Pittsburgh sowie das Oracle-Cloud-System. Während die Aerosole durch die Luft fliegen, dehydrieren sie und nehmen dabei atmosphärische Gase wie CO₂ auf. Dies verändert ihren ph-Wert; sie werden saurer. Dies würde normalerweise Proteine und Viren im Aerosol zerstören, stellt Amaro fest.
Zudem sollen auch die Wechselwirkungen zwischen Kalzium-Ionen und Spike-Protein-Molekülen in der Aerosolumgebung untersucht werden. Möglicherweise könnte auch dieser Vorgang der Gelierung das Virus vor Schäden in der feindlichen Umgebung innerhalb des Aerosols schützen, vermutet Amaro. Für diese Simulation nutzt das Team die KI-Methode OrbNet von Entos, die bedeutend weniger Rechenressourcen benötigt.
Die Befunde des Forscherteams um Amaro zeigen eindrücklich, welche Rolle die Aerosole bei der Übertragung von SARS-CoV-2 – besonders der Delta-Variante und vermutlich mehr noch der Omikron-Variante – spielen. Und sie erklären die höhere Infektiösität der Delta- und Omikron-Viren zu einem Teil. In der Praxis der Pandemiebekämpfung bedeutet dies vor allem, dass die Empfehlung, mindestens 1,5 Meter Distanz zu halten, als Sicherheitsabstand bei ungeschützten Kontakten nicht ausreicht. Wer sich gut gegen Aerosole schützen will, zieht FFP-Schutzmasken (Klasse 2 oder 3) den einfacheren chirurgischen oder Hygienemasken vor.
Wenn immer wenn ich sowas lese, frage ich mich was das für "Monster" sind, welche das bis in die Tiefe erforschen, verstehen und teils Therapien dafür entwickeln. Diese Gedankengänge möchte ich mal haben...