Damit hatten die Betreiber der linken Berner Genossenschaftsbeiz Brasserie Lorraine wohl nicht gerechnet: Nachdem sie am 18. Juli ein Reggae-Konzert der Band Lauwarm abgebrochen hatten, weil sich mehrere Konzertbesucher angesichts der blonden Rastafrisuren einiger Musiker «unwohl» fühlten, brach eine Welle der Empörung über sie herein.
Das «Unwohlsein» der Gäste, die sich beschwert hatten, hatte mit der «Thematik ‹Kulturelle Aneignung›» zu tun, wie die Genossenschaft mitteilte. Diese Thematik – auch hierzulande meist mit dem englischen Begriff «Cultural Appropriation» bezeichnet – sorgt zuverlässig für erregte Diskussionen. Auch hier bei watson, wo die Kommentarspalte unter dem Bericht über den Konzertabbruch innert kürzester Zeit hunderte von Beiträgen verzeichnete.
Was aber ist Cultural Appropriation nun genau? Woher kommt der Begriff und warum wird die Diskussion darüber oft so emotional geführt? Der Versuch einer Einordnung:
Wenn Weisse Dreadlocks – die Haartracht, die besonders bei Anhängern der Rastafari-Kultur verbreitet ist – tragen, müssen sie damit rechnen, dass ihnen Cultural Appropriation vorgeworfen wird. Der erwähnte Fall der Berner Brasserie Lorraine ist ein Beispiel dafür. Doch die übernommene Frisur ist im Grunde kein wirklich geeignetes Beispiel für das, was Cultural Appropriation tatsächlich meint. Denn so, wie der Begriff etwa in der Encyclopaedia Britannica definiert ist, geht es nicht einfach nur um die Übernahme eines kulturellen Elements, sondern vor allem um die Art und Weise, wie dies geschieht:
Cultural Appropriation im eigentlichen Sinne hat also immer mit Machtverhältnissen, Hierarchien und Respekt zu tun; sie ist abzugrenzen vom kulturellen Austausch zwischen Partnern, die sich auf Augenhöhe befinden. Nicht-Japaner, die Kimonos tragen, fallen daher eher nicht in diese Kategorie, und auch die Musiker der Band Lauwarm dürfte der Vorwurf wohl zu Unrecht treffen – sie haben die Rastafrisur kaum in ausbeuterischer oder respektloser Weise übernommen. Zumindest ist die Gleichung «Weisse + Dreadlocks = Cultural Appropriation» in dieser Simplizität nicht zulässig, zumal diese Haartracht historisch nicht nur bei Schwarzen vorkam.
Dass die Frage der Machtverhältnisse bei der Diskussion über Cultural Appropriation im Zentrum steht, hat auch der amerikanische Schriftsteller und Musiker Greg Tate in seinem 2003 erschienenen Buch «Everything But the Burden: What White People Are Taking From Black Culture» («Alles ausser der Bürde: Was die Weissen von der schwarzen Kultur übernehmen») hervorgehoben: Übernommen wird alles – aber eben nicht die Diskriminierung, die die Schwarzen trifft.
Erstmals erwähnt wurde der Begriff Cultural Appropriation in einem Aufsatz von Arthur E. Christy aus dem Jahr 1945. Frühe Hinweise auf Cultural Appropriation im modernen Sinn finden sich in dem 1979 erschienenen Buch des Soziologen Dick Hebdige: «Subculture: The Meaning of Style» («Subkultur: Die Bedeutung des Stils»). Hebdige befasste sich mit der Aneignung von kulturellen Symbolen von Randgruppen durch weisse Subkulturen in England.
Erst in den Achtzigerjahren fand der Begriff – zunächst nur in den Cultural Studies und Media Studies im angelsächsischen Sprachraum – breitere Verwendung, als das Konzept des «kulturellen Kolonialismus» zusehends in den Fokus der akademischen Diskussion geriet. Vorerst blieb der Begriff auch auf den akademischen Bereich beschränkt, ähnlich wie dies auch bei anderen Begriffen, etwa «Gaslighting», der Fall war. Wie dieser Begriff gelangte jener der Cultural Appropriation schliesslich ebenfalls in die Populärkultur. In den letzten Jahren wurde er zunehmend auch im deutschen Sprachraum verwendet.
Die Encyclopaedia Britannica zählt vier Beispiele für unterschiedliche Formen von Cultural Appropriation auf:
Mitglieder einer Mehrheitsgruppe übernehmen kulturelle Elemente einer Minderheitsgruppe und profitieren davon finanziell oder gesellschaftlich: Als Beispiel kann hier die Übernahme von schwarzer Musik – von Blues bis Rap – durch weisse Künstler in den USA dienen. Obwohl auch schwarze Musiker zunehmend von der Popularisierung ihrer Musik im weissen Publikum profitieren konnten, strichen weisse Künstler und Produzenten den Löwenanteil der Profite ein.
Ein anderes Beispiel ist die sogenannte Biopiraterie: Konzerne aus Industrieländern melden Patente auf Pflanzen an, die von indigenen Gemeinschaften traditionell kultiviert wurden; dies geschah etwa mit dem in Indien und Pakistan angebauten Basmati-Reis, der von einer texanischen Firma patentiert wurde. Erst nach heftigen Protesten aus Indien wurden die Ansprüche zurückgezogen.
Mitglieder einer Mehrheitsgruppe vereinfachen die Kultur einer Minderheitsgruppe stark oder machen sich darüber lustig: Bekannt ist das sogenannte Blackfacing, bei dem weisse Schauspieler ihr Gesicht schwärzten und als Karikatur eines Schwarzen in den Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts auftraten. Die Darbietungen verbreiteten und verstärkten abwertende Stereotype von Schwarzen – die selber an diesen Aufführungen nicht anwesend waren und auch gar nicht daran teilnehmen durften, weder als Schauspieler noch als Zuschauer.
Mitglieder einer Mehrheitsgruppe lösen ein kulturelles Element einer Minderheitengruppe aus seinem Bedeutungszusammenhang: Ein Beispiel dafür ist die Federhaube der amerikanischen Ureinwohner, die bei bestimmten Stämmen den Anführern vorbehalten ist und bei anderen als Auszeichnung – ähnlich einem militärischen Orden – gilt. Dieser Federschmuck ist seit einigen Jahren unter amerikanischen Musikfestival-Besuchern populär, die ihn als hippes Festival-Outfit verwenden.
Mitglieder einer Mehrheitsgruppe übernehmen Elemente einer Minderheitenkultur ohne negative Konsequenzen, während Mitglieder der Minderheitsgruppe dafür diskriminiert werden: Hier nennt die britische Enzyklopädie Dreadlocks als Beispiel. In den USA wurden mehrfach schwarze Schüler nicht zum Unterricht zugelassen, weil sie Dreadlocks trugen. Laut einer Studie sind schwarze Frauen in den USA am stärksten von Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund ihrer Frisur und Haarbeschaffenheit betroffen.
Das Konzept der Cultural Appropriation stösst auf mitunter heftigen Widerspruch. Offensichtlich absurde Forderungen – etwa, dass Weisse keine Gerichte wie Banh mi oder Dosas kochen sollten – werden nahezu einhellig und oft mit Empörung abgelehnt. Es gibt aber auch grundlegende Kritik am Konzept. Einer der gewichtigsten Einwände verweist darauf, dass Kultur mitnichten etwas Statisches, Gegebenes sei, das quasi unabänderlich einem bestimmten Kollektiv eigen ist. Sie sei im Gegenteil etwas Dynamisches.
In der Tat haben sich Kulturen seit jeher vermischt und gegenseitig beeinflusst; die Festlegung von kulturellen Merkmalen auf bestimmte Gruppen weist daher ahistorische und reaktionäre Züge auf. Die Journalistin Leonie Feuerbach sieht deshalb beim Konzept der Cultural Appropriation Anklänge an das Weltbild der rechtsradikalen Identitären Bewegung. Diese vertritt einen offensiven Ethnopluralismus, strebt also ethnisch homogene, voneinander segregierte Staaten und Gesellschaften an, wobei zum Teil die Zugehörigkeit zu einer «Ethnie» kulturell definiert wird.
Auch der Soziologe Jens Kastner, der von einer linken Warte aus argumentiert und das Vorhandensein von Cultural Appropriation durchaus anerkennt, sieht problematische Aspekte. Er weist auf essentialistische Konzepte hin, die von einer «Wesensverbindung» etwa zwischen Gruppe, Hautfarbe und Frisur ausgingen und nicht selten «rechten Phantasien kultureller Reinheit bedenklich nahe» kämen. Kastner hält die von ihm diagnostizierte «Reessenzialisierung» von Kultur für politisch problematisch. Kulturelle Ausdrucksformen und politischer Protest würden oft nur noch dann für legitim gehalten, wenn die darin involvierten Leute bestimmte Bedingungen erfüllten – und diese Bedingungen würden zudem zu Wesensmerkmalen erklärt.
Eine andere Stossrichtung der Kritik bemängelt, dass Cultural Appropriation letztlich das Subjekt entmündige, das sich immer auch gegen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und deren kulturelle Identität entscheiden können müsse. Durch die Ethnisierung werde aber diese kulturelle Zugehörigkeit zementiert und damit auch die Freiheit des Subjekts eingeschränkt.
Das Konzept der Cultural Appropriation weist denn auch Berührungspunkte mit identitätspolitischen Vorstellungen auf, die ebenfalls marginalisierte Gruppen ins Zentrum rücken. Wenn Weisse sich nicht zur Problematik des Rassismus äussern dürfen, weil ihnen die entsprechende Erfahrung fehlt, dann sollten sie auch nicht kulturelle Elemente unterdrückter Gruppen übernehmen, da sie nicht diskriminiert sind.
Für mich ist die Argumentation der Einzelnen, die sich angeblich unwohl fühlten, nicht nachvollziebar. Und ich könnte Wetten, es waren nicht „direkt Betroffene“ aus diesem Kulturkreis. Den die hätten sich einfach an der Musik erfreut und gefeiert!
„ Cultural Appropriation„ scheint sich auf den Standpunkt zu setzten, dass Kultur/Kunst statisch ist und sich nicht weiterentwickeln kann bzw. darf.
Ausserdem wer entscheidet ob eine Person schwarz genug ist für Rastas zu tragen oder Deutsch genug ist um Lederhosen zu tragen?