Es ist ein beeindruckender Anblick, wenn der Mond voll und rund am nächtlichen Himmel steht. Dem Trabanten unseres Planeten sagte man wohl schon vor undenklichen Zeiten einen enormen Einfluss auf das irdische Geschehen und die Befindlichkeit der Menschen nach. Heute füllen esoterische Ratgeber zum Mondkalender ganze Regale in den Buchhandlungen. Besonders wirksam – und dies oft in destruktiver Weise – soll dabei der Vollmond sein. Schon Shakespeare liess Othello unter dessen Einfluss stehen:
Während einige Behauptungen über die Auswirkungen des Vollmonds geradezu Gemeingut geworden sind, gelten andere höchstens als Schauermärchen – oder glaubt etwa tatsächlich jemand an die Existenz von Werwölfen? Sieben Beispiele aus der ersten Kategorie unterziehen wir hier einem Faktencheck:
Dies ist der populärste Vollmond-Mythos. Zahlreiche Leute glauben, dass sie bei Vollmond weniger gut einschlafen können oder unruhiger schlafen. Dafür wird nicht selten das Licht verantwortlich gemacht; schliesslich sind die drei Nächte um Vollmond zwölf mal so hell wie eine Halbmondnacht. Und es ist bekannt, dass Licht über die Zirbeldrüse den Pegel des Schlafhormons Melatonin beeinflusst. Ein anderer möglicher Grund ist psychologischer Natur: Wer sich sorgt, bei Vollmond schlechter schlafen zu können, schläft eventuell tatsächlich schlechter – gewissermassen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Wissenschaftliche Studien konnten bisher aber keinen kausalen Zusammenhang zwischen Vollmondnächten und Schlafstörungen nachweisen – mit einer Ausnahme: Eine Studie von Schweizer Forschern der Universität Basel stellte 2013 fest, dass die Testpersonen im Schlaflabor bei Vollmond fünf Minuten länger brauchten, um einzuschlafen. Zudem verkürzte sich die Schlafdauer insgesamt um 20 Minuten und die Tiefschlafphasen waren um 30 Prozent kürzer.
Allerdings weist die Studie einige Schwächen auf, wie die Forscher selbst einräumten. So war die Anzahl der untersuchten Vollmondnächte sehr gering, es gab nur 33 Probanden und die Untersuchung dauerte für die einzelnen Testpersonen nur dreieinhalb Tage. Auch wurden sie nicht befragt, ob sie selber an eine Auswirkung des Vollmonds glaubten oder nicht. Nach wie vor ist deshalb ein Einfluss des Vollmonds auf den Schlaf nicht nachgewiesen.
Bei Vollmond kommen mehr Kinder zur Welt. Diese Vorstellung, die erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, ist weit verbreitet. Doch die Statistiken zeigen: Es ist nichts dran. Zu diesem selben Schluss kommen sowohl der Astronomie-Professor Jean-Luc Margot von der University of California wie auch der Soziologe Edgar Wunder von der Universität Heidelberg. Margot führt den Mythos in seiner Studie aus dem Jahr 2015 vornehmlich auf die Voreingenommenheit mancher Berufsleute in den Entbindungsstationen der Krankenhäuser sowie mangelhafte statistische Methoden zurück. Studien, die einen Zusammenhang zwischen Vollmond und Geburtenhäufigkeit postulieren, hätten nie reproduziert werden können.
Dagegen vermochte die klare Mehrheit von grossangelegten Untersuchungen und Meta-Studien zum Thema keinen solchen Zusammenhang nachzuweisen. Dazu gehört auch die in Bezug auf die Anzahl der untersuchten Mondzyklen bisher umfangreichste Studie, die an der Universität Halle-Wittenberg durchgeführt wurde und mehr als vier Millionen Geburten analysierte. Auch sie fand keinerlei Korrelation zwischen Mondphasen und Geburtenzahl.
Wunder nahm, wie er in einem Interview mit der «Süddeutschen» schildert, mehrere Studien aus verschiedenen Ländern unter die Lupe, die jeweils einen winzigen signifikanten Effekt gefunden hatten – jedoch in unterschiedlichen Mondphasen. So zeigte eine französische Studie aus den 80er-Jahren, dass die meisten Geburten vor dem Neumond stattfanden. Auch Wunder weist darauf hin, dass Voreingenommenheit und Wahrnehmungsverzerrungen bei betroffenen Berufsleuten den Glauben an einen Zusammenhang mit dem Vollmond festigen.
Wenn Vollmond ist, gibt es in Spitälern und auf Polizeiposten mehr zu tun als sonst – das glauben viele. Unter dem Einfluss des vollen Mondes seien eben manche Leute zerstreuter und gereizter, deswegen gebe es mehr Unfälle und Verbrechen. Doch auch hier – genau gleich wie beim Mythos der steigenden Geburtenzahl bei Vollmond – stützen die Fakten die Annahme nicht. Margots bereits erwähnte Studie hat auch diesen vermeintlichen Zusammenhang widerlegt: In Vollmondnächten werden im Durchschnitt nicht mehr Patienten in Notaufnahmen eingeliefert als sonst.
Wunder räumt ein, dass viele Polizisten davon überzeugt sind, es komme bei Vollmond häufiger zu Unfällen und Gewalttaten. Auch hier verweist er aber auf die Mechanismen der selektiven Wahrnehmung: Wir speichern in unserem Gedächtnis nicht alle Vorfälle aus dem Alltag gleich ab, sondern laden jene eher mit Bedeutung auf, die uns aufgefallen sind. So werde ein Polizist einen Unfallort, über dem ein Vollmond hängt, eher als etwas Besonderes wahrnehmen und sich entsprechend eher daran erinnern, während er einen Vorfall ohne Mond eher wieder vergessen werde. Dies verzerre seine subjektive Statistik. Hinzu komme, dass auch die Medien in der Berichterstattung über ein Unglück oder Verbrechen dazu neigen, einen Vollmond als Umstand zu erwähnen – kaum aber einen Halbmond.
Dem Vollmond wird vieles nachgesagt – auch dass er Schlafwandler dazu bringe, ihr Bett zu verlassen. So nannte man die Schlafstörung Somnambulismus einst auch «Mondsucht» (Lunatismus). Das Körnchen Wahrheit in dieser Vorstellung liegt darin, dass Schlafwandler sich in der Tat generell in Richtung einer Lichtquelle bewegen. Und früher war eben nachts der Mond meist die einzige Lichtquelle, und der Vollmond ganz besonders.
Heute ist das längst nicht mehr so; der Mond ist nur noch eine unter vielen Lichtquellen. Gleichwohl nimmt – da der Vollmond wie eingangs erwähnt sehr viel heller scheint als der Halbmond – in Vollmondnächten die Wahrscheinlichkeit ein wenig zu, dass zu Somnambulismus neigende Leute auch tatsächlich schlafwandeln. Als Gegenmittel bietet sich an, das Schlafzimmer mittels Storen oder Vorhängen gut abzudunkeln.
In esoterischen Ratgebern ist mitunter zu lesen, dass planbare medizinische Eingriffe bei Vollmond besser zu unterlassen seien. Die Gefahr eines besonders starken Blutverlusts und das Komplikationsrisiko seien dann höher. Besser sei es, sich bei abnehmendem Mond operieren zu lassen. Dahinter steckt die allgemeine Vorstellung, dass in der abnehmenden Mondphase Entleerung, Befreiung von Ballast und dergleichen besser verliefen – während umgekehrt bei zunehmendem Mond Aufbau, Wachstum und Ähnliches intensiver seien.
Nur haben zahlreiche empirische Studien die Behauptung, Operationen seien bei Vollmond riskanter, auf ihren Wahrheitsgehalt hin abgeklopft – und sind ausnahmslos zum selben Ergebnis gekommen: Es tut nichts zur Sache, bei welcher Mondphase der Chirurg zum Messer greift. Ein Beispiel unter vielen ist eine 2011 publizierte Studie von Wissenschaftlern des Uniklinikums Saarland. Sie analysierte 27'914 Fälle von Patienten, die sich zwischen 2001 und 2010 einem chirurgischen Eingriff unterziehen mussten, und glich sie mit 111 Mondzyklen ab. Die Forscher konnten weder auffällige Blutverluste noch die Anzahl der Notfälle mit einer bestimmten Mondphase korrelieren.
Zum selben Ergebnis kam eine Studie der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität aus dem Jahr 2009, die postoperative Komplikationen und die Mortalitätsrate bei 2411 Lungenkrebspatienten statistisch auswertete: Es ergab sich kein signifikanter Zusammenhang mit den Mondphasen.
Der weibliche Zyklus dauert im Schnitt 28 Tage – fast so lange wie ein Mondzyklus, der von Neumond zu Neumond 29,5 Tage währt*. Diese auffällige Koinzidenz hat wohl dazu geführt, dass die Auffassung, wonach der Mond den Menstruationszyklus beeinflusst, grosse Popularität geniesst. Vor allem in esoterischen Zirkeln glaubt man, dass Frauen ohne den Einfluss von künstlichem Licht bei Neumond menstruieren und bei Vollmond ovulieren. In der Tat gibt es Tiere wie den Palolo-Wurm, der in Korallenriffen der Südsee lebt, die sich bei der Fortpflanzung nach dem Mond als Taktgeber richten. Doch bei Menschen ist kein solcher Zusammenhang nachgewiesen. So zeigten Daten von 1,5 Millionen Frauen, die über die Menstruationskalender-App Clue erhoben wurden, keine Korrelation zwischen lunarem und weiblichem Zyklus.
Auch die Anthropologin Beverly Strassmann von der Universität Ann Arbor im US-Staat Michigan konnte in ihrer 1997 erschienenen Studie keinen Zusammenhang zwischen Menstruationszyklus und Mondphase feststellen. Sie hatte 477 Menstruationszyklen von 58 Frauen untersucht – und zwar bei den Dogon in Mali, die ohne Empfängnisverhütung und ohne elektrisches Licht leben. Chemische und physikalische Einflüsse auf den Biorhythmus der Frauen konnte Strassmann daher ausschliessen.
In der Volksmedizin spricht man dem Vollmond heilende Kräfte zu – wenn es um Warzen geht. Diese von Viren verursachten Hautveränderungen können ungemein hartnäckig sein und sich in manchen Fällen schulmedizinischen Behandlungen widersetzen. Neben zahlreichen weiteren Hausmitteln teils höchst seltsamer Art gibt es auch einige, bei denen der Vollmond – manchmal auch der abnehmende oder zunehmende Mond – eine wichtige Rolle spielt.
So soll man Warzen bei Vollmond «besprechen», zum Beispiel mit diesem Spruch:
Etwas elaborierter ist die Anweisung, nach einer Vollmondnacht eine Wiese aufzusuchen, auf der noch Tau liegt, dort eine Nacktschnecke zu finden und diese dann über die Warze kriechen zu lassen. Aus Russland kommt das Rezept, mit der Hand über eine vom abnehmenden Mond beschienene Wand zu fahren und mit dieser dann von oben nach unten über die Warze zu streichen. Diese Prozedur muss mehrere Nächte wiederholt werden.
Interessanterweise sind diese Hausmittel bis zu einem gewissen Grad durchaus wirksam – allerdings dürfte der Einfluss des Mondes dabei kaum eine Rolle spielen. Vielmehr stimulieren die seltsamen Therapien durch Suggestion das Immunsystem, das Warzen zum Verschwinden bringen kann – dank dem Placebo-Effekt. Ohnehin bilden sich viele Warzen nach einiger Zeit von selbst zurück: In rund 60 Prozent der Fälle tritt eine Spontanheilung innerhalb von zwei Jahren ein.
* Ursprünglich stand hier irrtümlich, ein Mondzyklus dauere von Neumond zu Vollmond 29,5 Tage. Korrekt ist von Neumond zu Neumond.