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52 Millionen Tonnen Plastikmüll gelangten 2020 in die Umwelt

Plastikmüll in Indien
Immer noch gelangt viel zu viel Plastikmüll in die Umwelt. Bild: Shutterstock

Riesenmengen Plastik gelangen in die Umwelt – und der Hauptsünder ist nicht China

08.09.2024, 16:0108.09.2024, 17:54
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Plastikverschmutzung ist mittlerweile eine der schlimmsten Krisen unserer an Drangsal ohnehin nicht armen Zeit. Eine neue Studie, die in der Fachzeitschrift «Nature» veröffentlicht worden ist, untermauert diesen betrüblichen Befund: Im Jahr 2020 landeten sage und schreibe 52 Millionen Tonnen Plastikprodukte in der Umwelt – die in einer Linie aneinandergereiht den Globus 1500 Mal umspannen würden. Mehr als zwei Drittel dieses Mülls stammten aus dem Globalen Süden. Die erste weltweite Bestandsaufnahme der Plastikverschmutzung wirft ein Licht auf das Ausmass des weggeworfenen, nicht gesammelten Plastikmülls und der offenen Verbrennung von Kunststoffabfällen.

Das Forschungsteam der University of Leeds modellierte mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) die Abfallbewirtschaftungen in mehr als 50'000 Städten und Orten weltweit. Anhand dieses Modells konnte das Team vorhersagen, wie viel Plastikmüll weltweit anfällt – und was damit geschieht.

So viel Plastikmüll gelangt in die Umwelt

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So viel Plastikmüll gelangt in die Umwelt
Makroplastik umfasst alle Plastikprodukte, die grösser als 5 Millimeter sind. Kleinere Plastikteile gelten als Mikroplastik.
quelle: dr. angeliki savvantoglou of bear bones
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Steigende Plastikproduktion

Als Hauptursache der Plastikkrise identifizieren die Forscher den nicht eingesammelten Plastikmüll, der etwa zwei Drittel der gesamten Plastikverschmutzung ausmacht. Dies erstaunt nicht, wenn man bedenkt, dass beinahe 1,2 Milliarden Menschen – rund 15 Prozent der Weltbevölkerung – keinen Zugang zu einer geordneten Müllabfuhr haben. Sie müssen ihren Abfall selbst entsorgen, indem sie ihn oft irgendwo abladen, in Flüsse werfen oder in offenen Feuern verbrennen. Am schlimmsten ist das Problem laut der Studie in der nigerianischen Metropole Lagos. Weitere Hotspots sind Neu-Delhi in Indien, die angolanische Hauptstadt Luanda und Karachi in Pakistan.

Für Nachschub sorgt die weltweite Kunststoffproduktion: Jedes Jahr werden mehr als 400 Millionen Tonnen Plastik hergestellt. Viele dieser Plastikprodukte sind Wegwerfartikel, die sich nur schwer recyceln lassen und jahrzehntelang oder sogar jahrhundertelang in der Umwelt verbleiben können, wobei sie oft in kleinere Teile zerfallen. Einige Kunststoffe enthalten schädliche Chemikalien, die gesundheitsgefährdend sein können – besonders dann, wenn sie offen verbrannt werden.

Die weltweit produzierte Kunststoffmenge ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Treiber dieses Anstiegs sind insbesondere asiatische Länder.

Müllverbrennung ohne Kontrollen

Und ebendies geschieht in rauen Mengen, wie die Ergebnisse der Studie zeigen. Im Jahr 2020 wurden rund 30 Millionen Tonnen Plastik – das sind 57 Prozent der gesamten Plastikverschmutzung – in Häusern, auf Strassen und Mülldeponien verbrannt. Und das, ohne dass es irgendwelche Umweltkontrollen gab. Bisher wurde die offene Verbrennung von Plastikmüll nur wenig beachtet, doch sie stellt ein ebenso dringliches Problem dar wie Plastikabfall, der weggeworfen wird und in die Umwelt gelangt.

«Dies ist eine dringende globale Gesundheitskrise», erklärt Studienleiter Costas Velis in einer Mitteilung der Universität Leeds. «Menschen, deren Abfälle nicht abgeholt werden, haben keine andere Wahl, als sie zu entsorgen oder zu verbrennen. Und während das Verbrennen von Plastik auf den ersten Blick eine schnelle Lösung zu sein scheint, sieht die Realität ganz anders aus. Tatsächlich kann die offene Verbrennung von Kunststoffen schwere gesundheitliche Schäden wie Entwicklungsstörungen, Fortpflanzungsprobleme und Geburtsfehler verursachen. Überdies trägt sie zur weiteren Verbreitung der Umweltverschmutzung bei.»

Abfallentsorgung ist ein Grundbedürfnis

Das Forschungsteam betont, der Zugang zu Müllabfuhr sei ein Grundbedürfnis. Der Abfallentsorgung sollte derselbe Stellenwert zuerkannt werden wie der Wasserversorgung und den Abwassersystemen. Plastikmüll-Experte Josh Cottom, einer der Autoren der Studie, weist darauf hin, dass die Gesundheitsrisiken der Plastikverschmutzung vornehmlich die ärmsten Gemeinschaften treffen, also ausgerechnet jene, die wenig dagegen tun können. «Durch eine Verbesserung der grundlegenden Abfallbewirtschaftung können wir die Plastikverschmutzung drastisch reduzieren und die Lebensbedingungen von Milliarden von Menschen verbessern», stellt Cottom fest.

Die beiden hauptsächlichen Schwerpunkte bei der Bekämpfung des Plastikmüll-Problems ortet das Forschungsteam denn auch bei der Reduktion von nicht eingesammeltem Plastikabfall und der Beendigung der Müllverbrennung. Dem müsse man viel mehr Aufmerksamkeit widmen, bevor noch mehr Menschen unnötigerweise von der Plastikverschmutzung betroffen seien, fordert Velis.

Die grössten Verursacher

Das Team ermittelte zudem die Staaten, in denen am meisten Plastikmüll in die Umwelt gelangt. Der grösste Verursacher ist mit 9,3 Millionen Tonnen überraschenderweise Indien – und nicht etwa China, wie zuvor angenommen wurde. An zweiter Stelle steht Nigeria mit 3,5 Millionen Tonnen, gefolgt von Indonesien (3,4 Millionen Tonnen). China (2,8 Millionen Tonnen) steht nun an vierter Stelle, was auf Fortschritte bei der Abfallentsorgung in den vergangenen Jahren zurückzuführen ist.

Rangliste der 10 grössten Plastikverschmutzer (2020)

Top Ten der Plastikmüll-Verursacher weltweit (2020)
Plastikverschmutzung in Millionen Tonnen pro Jahr. Indien ist mittlerweile vor Nigeria und Indonesien der grösste Plastikmüll-Produzent. Karte: Dr Angeliki Savvantoglou of Bear Bones
Mittlere Makroplastik-Emissionen nach Ländern. (2020)
https://www.nature.com/articles/s41586-024-07758-6
Hier das gesamte Bild: mittlere Makroplastik-Emissionen in die Umwelt nach Ländern (in Mio. t pro Jahr).Karte: Nature

Es zeigt sich auch, dass viele Länder in Subsahara-Afrika zwar in absoluten Zahlen eine geringe Plastikverschmutzung aufweisen, jedoch hohe Werte, wenn es um die Menge des Plastikmülls pro Kopf geht. Im Durchschnitt sind es 12 Kilogramm pro Person und Jahr, was mehr als 400 Plastikflaschen entspricht. Die Wissenschaftler befürchten deshalb, dass sich die subsaharischen Staaten in den kommenden Jahrzehnten zur grössten Quelle für die Plastikverschmutzung entwickeln könnten. Viele Länder in dieser Region verfügen nur über eine rudimentäre Abfallbewirtschaftung; zudem wächst die Bevölkerung dort weltweit noch am stärksten.

Makroplastik-Emissionen pro Kopf nach Ländern (2020)
https://www.nature.com/articles/s41586-024-07758-6/figures/3
Makroplastik-Emissionen in die Umwelt nach Kopf (kg pro Jahr).Karte: Nature

Die Welt braucht einen «Plastikvertrag»

Das Forschungsteam hofft, dass diese erste globale Bestandsaufnahme der Plastikverschmutzung den politischen Entscheidungsträgern als Grundlage dienen kann, die sie bei der Entwicklung von Plänen für die Abfallbewirtschaftung, die Rückgewinnung von Ressourcen und eine Kreislaufwirtschaft unterstützen wird. Die Studie zeige, wo die dringendsten Probleme liegen, und sie zeige zugleich, wo noch Verbesserungen erforderlich seien.

«Die politischen Entscheidungsträger haben sich in der Vergangenheit schwergetan, dieses Problem anzugehen, was zum Teil auf einen Mangel an zuverlässigen Daten zurückzuführen ist», erklärt Ed Cook, einer der Studienautoren. «Wir hoffen, dass unsere detaillierten lokalen Informationen ihnen helfen werden, die verfügbaren Ressourcen im Kampf gegen die Plastikverschmutzung effektiver einzusetzen.» Zum Schluss fordern die Wissenschaftler einen neuen, ambitionierten und rechtsverbindlichen Plastikvertrag, mit dem die Ursachen der Plastikverschmutzung bekämpft werden sollen. (dhr)

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Indien versinkt im Plastik
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Indien versinkt im Plastik
Neu-Delhi ist Gastgeberstadt des diesjährigen UNO-Umwelt-Tags am 5. Juni 2018 zum Thema Plastikmüll. Die folgenden Bilder sind alle heute entstanden und zeigen das Plastik-Desaster in Indien.
quelle: epa/epa / jaipal singh
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Vorbild: Ein Dorf in Japan recycelt 80% seiner Abfälle
Video: srf
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76 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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maylander
08.09.2024 17:54registriert September 2018
Momentan sind gute Kehrichtverbrennungsanlagen die pragmatische Lösung.
In der Schweiz stehen die KVA mitten in der Stadt und es funktioniert problemlos.
Weltweit ist unsere Industrie auf den Gebiet führend.
Wieso nicht als Entwicklungshilfe solche KVAs bauen und betreiben? Das würde relativ wenig kosten aber sehr viel bringen.
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Aschenmadlen
08.09.2024 18:39registriert Juli 2017
In Indien, Kerala gehts verhältnismässig gut, sah man schon vor 20 Jahren kaum mehr den Waldboden. Alles voller Müll, Hauptsache der Modi fliegt in den Weltraum. An unsere Entwicklungshilfe sollten klare Ziele gebunden werden, schon längst.
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Hadock50
08.09.2024 16:59registriert Juli 2020
Wenn es die verbraucher nicht richten können und die Regierungen auch nich, sollzen die Produzenten in die Verantwortung genommen werden.
Es wäre genug Geld vorhanden, das Problem zu lösen, nur ist es in den falschen Händen.😠
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    Heute entscheidet sich die Zukunft der Weltwirtschaft
    Donald Trump will den globalen Handel neu organisieren.

    Alle starren darauf, wie das Kaninchen auf die Schlange, keiner weiss, was uns erwartet: Donald Trumps «liberation day» hält Manager, Ökonomen und Investoren gleichermassen in Atem. Die Rede ist von «reziproken Zöllen», will heissen, die USA wollen jedem Land die gleichen Zölle aufbürden, unter denen die eigenen Exporte zu leiden haben. Oder auch nicht: Vielleicht werden auch allen Ländern pauschal 20 Prozent Zölle aufgebrummt.

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