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Alzheimer-Forscherin: «Das Problem ist, dass man nicht ins Hirn schauen kann»

Andrea Pfeifer, Chefin der Biotechfirma AC Immune, ist eine Pionierin der modernen Alzheimerforschung.
Andrea Pfeifer, Chefin der Biotechfirma AC Immune, ist eine Pionierin der modernen Alzheimerforschung.bild: youtube / The Brain Forum
Interview

Alzheimer-Forscherin: «Das Problem ist, dass man nicht ins Hirn schauen kann»

Alzheimer-Forscherin Andrea Pfeifer (59) spricht im Interview über die Schwierigkeiten des Gehirns, Fehler in der Forschung und was der Bauch mit dem Kopf zu tun haben könnte.
06.08.2017, 17:2807.08.2017, 15:04
Laurina Waltersperger und Andreas Möckli / Schweiz am Wochenende
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Unzählige Orchideen reihen sich entlang der Fensterfront des Sitzungszimmers. «Das ist wohl der über 50-Prozent-Anteil an Weiblichkeit in unserem Unternehmen», sagt Andrea Pfeifer, Chefin der Biotechfirma AC Immune, vor dem Interview. Sie sei es nicht, die den grünen Daumen habe. Hier auf dem Campus der ETH Lausanne bezog Pfeifer in den Gründertagen der Firma 2003 mit ihrem Team ein unscheinbares Büro. Seither leitet die Pharmazeutin und Professorin die Alzheimerfirma. Sie gilt als Pionierin in der modernen Alzheimerforschung. Trotz Börsengang in New York vergangenen Herbst und der ersten zulassungsrelevanten Studie gegen Alzheimer mit dem Pharmakonzern Roche sind Pfeifer und ihr Team bislang ihrer Heimat auf dem Campus treu geblieben.

Frau Pfeifer, Sie erforschen Alzheimer, die Extremform der Vergesslichkeit. Wie vergesslich sind Sie?
Andrea Pfeifer: Mein Gedächtnis ist sehr gut. Meine Mitarbeiter beschweren sich fürchterlich, dass ich nichts vergesse (lacht). Wenn wir etwas beschlossen haben, bleibt es in meinem Kopf, bis wir es abgearbeitet haben.

Seit 2003 arbeiten Sie an einem Medikament gegen Alzheimer. Die Krankheit beschäftigt Sie jeden Tag. Wird man da nicht paranoid, wenn man mal etwas vergisst?
Nach dem Börsengang im September waren wir doch alle relativ müde. Da hat man schon mal das eine oder andere im Alltag vergessen. Da habe ich mich sofort beobachtet, ob das nun der Müdigkeit geschuldet ist oder ob mehr dahintersteckt. Von daher – paranoid bin ich noch nicht, aber die Krankheit ist schon im Hinterkopf. Man schaut auch die älteren Menschen anders an.

Haben Sie privat Berührungspunkte mit der Krankheit?
Alzheimer ist eine chronische Krankheit. Ich weiss seit meiner frühsten Kindheit, was es heisst, von chronisch kranken Menschen umgeben zu sein. Meine Eltern litten an mehreren solchen Erkrankungen. Das hat mich sehr berührt, in meiner Kindheit, im Studium, bis heute möchte ich helfen.

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Wenn Sie mit Ihrem Forschungsansatz recht behalten, könnten Sie bald vielen Menschen mit Alzheimer helfen. Wollten Sie schon immer Arzneien entwickeln?
Mit sechs Jahren stand ich mit meiner Mutter in einer Apotheke. Ich war begeistert von den vielen Fläschchen und wusste, ein solches Geschäft will ich einmal haben.

Was ist Alzheimer? Ein deutsches Erklärvideo zu Ursachen, Symptomen, Verlauf und Behandlung der Krankheit.Video: © Youtube/TheSimpleBiology

Als Biotech-Unternehmerin sind Sie heute nicht so weit davon entfernt. Mit Alzheimer haben Sie sich aber eine Disziplin mit vielen Rückschlägen ausgesucht. Frustriert Sie das?
Die Wissenschaft hat noch immer keine Therapie, obschon immer mehr Alzheimerpatienten dringend eine bräuchten. Das frustriert. Die Diagnostik bei Alzheimer ist immer noch schwierig und es dauert noch zu lange, um die Krankheit früh feststellen zu können.

Was treibt Sie an?
Wir haben eine Technologieplattform, die es uns ermöglicht, als erster Anbieter eine frühzeitige Diagnose auf den Markt zu bringen und möglicherweise auch die Therapie dazu.

Fehlt es weiterhin an einer Therapie, könnte sich die Zahl der weltweit erkrankten 47 Millionen Menschen bis 2030 verdoppeln. Trotzdem ist die Krankheit weitgehend immer noch eine Blackbox.
Alzheimer spielt sich im Gehirn ab. Das grosse Problem ist, dass man dort nicht einfach hineinschauen und schon gar keine Biopsie entnehmen kann, um diese im Labor zu untersuchen. Denken Sie an Krebs, dort ist dank Tumorproben in den meisten Fällen eine molekulare Diagnose möglich.

Die bildgebenden Verfahren, um ins Gehirn zu schauen, werden stets besser. Was sieht der Arzt im Gehirn eines Alzheimerpatienten, was dort nicht hingehört?
Wir sehen Proteine, die sich auf den Nervenbahnen im Gehirn ansammeln und so die neuronale Übertragung irreversibel schädigen. Das ist mit einer strukturellen Veränderung dieser Proteine verbunden. Die involvierten Eiweisse heissen Amyloid-Beta und Tau.

Die Wissenschaft weiss, dass diese Proteine bei Alzheimer eine Rolle spielen. Doch sie weiss nicht, was die Strukturänderung auslöst.
Alzheimer ist im Prinzip keine genetische Krankheit, die man mit einem Test prüfen könnte. Das macht es so schwierig.

Kann man so überhaupt ein Medikament entwickeln?
Das ist eine berechtigte Frage, die wir uns auch oft gestellt haben – gerade wenn wieder Rückschläge in der Branche verkündet werden. Die Daten, die wir heute haben, sprechen sehr für eine starke Korrelation zwischen der Ausprägung der erwähnten Proteine und der Krankheit. Die grosse Schwierigkeit ist es, eine hoch spezifische Therapie zu entwickeln, die nur die krankheitsverursachenden Veränderungen des Proteins angreift – nicht aber sein normales Vorkommen im Körper.

Daran sind bislang alle gescheitert. Zahlreiche Wissenschafter haben den Amyloid-Beta-Ansatz schon abgeschrieben. Sie halten daran fest.
Der Ansatz ist zwar nicht zu 100 Prozent bewiesen. Aber die Studien sprechen eine eindeutige Sprache. In Island wurde eine Bevölkerungsgruppe untersucht, die einem kleinen Genpool entspringt. In diesem ist ein Gendefekt weit verbreitet. Die Menschen stellen weniger Amyloid-Beta-Protein her. Sie alle haben keinen Alzheimer, über Generationen. Das Gegenbeispiel sehen wir bei Menschen mit Down-Syndrom. Sie produzieren aufgrund ihres Chromosomenfehlers zu viel Amyloid-Beta und haben sehr häufig sehr früh Alzheimer.

Organisationen für Down-Syndrom- Betroffene kritisieren, Sie würden diese Patienten als Versuchskaninchen benutzen.
Menschen mit Down-Syndrom haben eine genetische Veranlagung, die oft früh zu Alzheimer führt. Sind wir erfolgreich mit unserem Wirkstoff, wäre dies das erste Mal, dass diesen Patienten geholfen werden kann. Heute werden 80 Prozent von ihnen über 60 Jahre alt. Der Handlungsbedarf ist gross.

Vor Ihrer Arbeit bei AC Immune forschten Sie gegen Krebs. Dort erlebt die Therapie gerade einen Paradigmawechsel. Lässt sich das Erfolgsrezept übertragen?
Ich habe 1989 am amerikanischen National Institute of Health an den molekularen Faktoren von Krebs mitgearbeitet. Die Onkologie hatte damals gemerkt, dass sie die Krankheit auf die molekulare Ebene herunterbrechen muss, um sie besser zu verstehen. Das heisst, sie hat nach genetischen Veränderungen gesucht, die zu Krebs führen. Die Behandlung wurde entlang dieser einzelnen Mutationen immer zielgerichteter. Der Roche-Wirkstoff Herceptin gegen Brustkrebs war erst dann erfolgreich, als man merkte, dass er nur bei Patientinnen wirkten, die eine bestimmte Genveränderung hatten.

Was heisst das für Alzheimer?
Den Ansatz der Präzisionsmedizin müssen wir in die Neurowissenschaften übertragen. Was bei Krebs die Gene sind, sind hier die strukturell veränderten Proteine. Mit den bildgebenden Verfahren können wir unterschiedliche Proteine spezifisch im Gehirn nachweisen. Wir sind hoffentlich bald in der Lage, entlang dieser Scans unterschiedliche Therapien anbieten zu können.

Die Analogie leuchtet ein. Bloss braucht es für spezifische Behandlung eine Auswahl an Therapien. Bei Alzheimer gibt es kein Mittel.
Wir wollen im aktuellen Stadium feststellen, ob der Patient Demenz oder tatsächlich Amyloid-Beta-induzierten Alzheimer hat. In einem weiteren Schritt wollen wir herausfinden, ob der Patient bereits das zweite krankheitsverursachende Protein, Tau, hat.

Viele in der Forschung setzen vermehrt auf Tau. Was kann Tau, was Amyloid-Beta nicht kann?
Studien zeigen, dass das Tau-Protein, schon fünf bis zehn Jahre bevor die ersten Symptome einsetzen, im Gehirn sichtbar ist und gut mit dem Krankheitsverlauf korreliert. Das ist entscheidend für uns, da wir längerfristig präventiv behandeln wollen.

Auf Ihrem Wirkstoff Crenezumab, den Sie mit Roche in der Endphase der Forschung testen, ruht grosse Hoffnung. Was macht Sie nach den Rückschlägen der Branche sicher, dass Ihr Wirkstoff nicht durchfällt?
Die ganze Branche war bisher in den klinischen Studien mit der Diagnose nicht genau genug. Es wurden zu viele Patienten eingeschlossen, die keinen Alzheimer und damit kein Amyloid-Beta hatten. Damit behandeln sie Menschen mit Demenz, die die Krankheitsursache nicht haben und so die Statistik verändern. Bei unserer zulassungsrelevanten Studie haben wir nur Patienten aufgenommen, bei denen wir auf den bildgebenden Scans Amyloid-Beta feststellen konnten. Zudem wissen wir heute, dass wir so hoch wie möglich dosieren müssen, um einen Effekt zu erzielen. Mit unserem Molekül ist das ohne signifikante Nebenwirkungen möglich. Das schafft einen grundlegenden Unterschied zu anderen Arzneien.

Damit sind Sie aber nicht mehr die Einzigen. Konkurrent Biogen entwickelt eine sehr ähnliche Arznei.
Dieser Wirkstoff hat einen anderen Wirkmechanismus und muss aufgrund beobachteter Nebeneffekte sechs- bis zehnmal niedrigerer dosiert werden.

Ihr langfristiges Ziel ist es, Alzheimer präventiv zu behandeln. Damit es gar nicht zur Proteinablagerung kommt. Wie geht das?

«Meine Vision ist es, dass Menschen in fünf bis zehn Jahren bei ihren Vorsorge-Checks nicht mehr nur auf Diabetes, Herzfunktion oder Cholesterin untersucht werden – sondern auch auf Alzheimer.»

Das heisst, jeder geht dann auch zum PET-Scan. Das ist das bildgebende Verfahren, mit dem wir anhand eines Kontrastmittels Amyloid-Beta oder Tau im Gehirn sehen. Damit können wir sehr früh Risikopatienten identifizieren und mit einer Impfung und kognitivem Training vorbeugen.

Ob bei Krebs oder Alzheimer: Im Rahmen der Prävention spielt das Mikrobiom, das heisst die Zusammensetzung der Bakterien im Darm, eine wichtige Rolle. Wie wirken diese Bakterien aufs Gehirn?
Erste Studien zeigen, dass sich das Risiko für Alzheimer reduziert, wenn Entzündungsreaktionen im Darm verhindert werden. Bei Parkinson wissen wir heute schon ziemlich genau, dass es bestimmte Bakterien im Darm gibt, die dort das krankheitsverursachende Protein Alpha-Synuclein produzieren können. Möglicherweise gelangt dieses ins Gehirn und löst dort die Krankheit aus.

Wie weit sind Sie mit dieser Hypothese für Alzheimer?
Wir haben entsprechende Studien geplant, bei denen wir schauen, ob wir über die periphere Behandlung der Bakterien im Darm Parkinson positiv beeinflussen können. Für uns ist das ein hochinteressantes Thema. Als Forscherin würde es mich sehr freuen, wenn wir über die Ernährung Parkinson und Alzheimer entgegenwirken könnten.

Sie waren Direktorin des Nestlé Research Center. Können wir bald mit einer Kollaboration rechnen?
Wer weiss (lacht). Wenn Sie mich fragen würden, was meine nächste Geschäftsidee wäre; dann sicher ein Start-up in dem Bereich, wo Food und Pharma zusammenkommen.

Konkrete Pläne?
Im Moment noch nicht.

Seit September notiert AC Immune an der New Yorker Börse. Alzheimer ist ein Hochrisikoprojekt. Wie oft beruhigen sie Ihre Investoren?
Wir sprechen mindestens einmal im Monat mit den wichtigsten Investoren. Die neuen, meist amerikanischen, Aktionäre sind fast alle Spezialisten. Das macht es einfacher für uns. Sie kennen jeden Wirkstoff, jede Firma in dem Bereich und glauben an uns.

Trotzdem diversifizieren Sie Ihr Risiko, Ihr strategisches Versprechen an die Investoren beim Börsengang.
Mittlerweile haben wir mit Parkinson und weiteren seltenen Gehirnkrankheiten ein zweites neurologisches Standbein aufgebaut. Als dritten Bereich zählen wir die Diagnostik mit bereits erfolgreichen Entwicklungen. Damit haben wir das Werkzeug, einer der Leader in der Präzisionsmedizin zu werden.

Im September werden Sie 60 Jahre alt. Sie nähern sich zaghaft der Pension. Ist das für Sie ein Thema?
Solange es mir Spass macht, denke ich nicht daran, aufzuhören. Und es macht mehr Spass denn je. Solange es mir gut geht und die Firma Fortschritte macht, mache ich weiter.

Sie sprachen von neuen Ideen. Actelion-Gründer Jean-Paul Clozel startet mit 62 nochmals durch.
Also, wenn ich einen Exit wie Jean-Paul Clozel machen würde, dann würde ich sicher an ein neues Start-up denken. Aber ein solcher Ausstieg muss erst mal noch kommen. (aargauerzeitung.ch)

Unser Lohnpolizist Michi (13) fragt nach

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