Man kann sterben, wenn man versucht, eine Taschenbibel zu schlucken. Oder wenn man sich das Pinkeln vor lauter Etikette verkneift. Auch nicht unbedingt empfehlenswert ist es, in alkoholisiertem Zustand das Spiegelbild des Mondes in einem Fluss zu umarmen. Ebenso irrig ist die Vorstellung, ein in die Harnröhre eingeführtes Stück Walknochen vermöge, eine Verstopfung zu lösen.
Auf ganz vielen Ebenen ist Analsex mit einem Pferd verkehrt. Sei gewarnt, die Gartenschnecke, die man für eine Mutprobe heruntergewürgt hat, kann sich auch acht Jahre später noch rächen. Und wisse, dass die lächerlichen Warenpreise in einer fünfjährigen Zeitung einen australischen Hundetrainer im Jahre 1920 so sehr zum Lachen brachten, dass er darob starb. Teuerung kann Leben kosten. «A Fish Called Wanda» (1988) auch. Zumindest das von Ole Bentzen, den die Pommes-Frites-Szene so sehr erheiterte, dass er sich mitsamt seinem ausgepumptem Herzen ins Jenseits hinübergrölte.
Willkommen zu einer neuen Folge der Reihe «RIP LOL – Tode, die nicht ganz so würdig, dafür umso sinnloser sind».
Heute mit ...
... Jean-Baptiste Lully!
Ein Mann mit Allongeperücke, ihr ahnt es, er entstammt dem 17. Jahrhundert. Und der Hofgesellschaft des französischen Sonnenkönigs, der dieses langlockige Fremdhaar zur Staatsperücke ernannte. Als solche verlieh sie ihrem Träger Würde, besonders, wenn die Syphilis sich der natürlichen Würdenträger bereits bemächtigt hatte. So manch einer trug dank der Franzosenkrankheit sein Haupthaar «allerliebst geschoren», und dies ganz ohne das Zutun eines Rasiermessers, spottete ein Zeitgenosse.
Was genau sich unter Jean-Baptiste Lullys Zweitfrisur tat, wissen wir nicht. Aber diese sicherlich reichlich angeschwitzte Stelle braucht uns auch nicht weiter zu kümmern, denn aus seinem 54 Jahre alten Leben gerissen hatte ihn kein spiralig gewundenes, blasses Bakterium, sondern etwas langes, gerades und schweres.
Doch was war davor? Wovon erzählt uns dieses Gesicht, in dem Gott so grosszügig das Fleisch verteilte? Was haben Lullys Lippen gesprochen, als sie noch wie zwei hochmütig angeschwollene Würste quer unter seiner grosslöchrigen Nase lagen? Und warum sind sie fast genervt zusammengepresst, warum liegt um seinen Mund herum so viel Selbstgefälligkeit? Hundertfach verschärft noch durch den Blick, der aus diesen Bullaugen schiesst und sein Gegenüber zu töten trachtet, falls dieses seine offenkundige Genialität nicht augenblicklich erkennt. Muss er ihm etwa erst seine Notenblätter – diese unmissverständlichen Zeugnisse seiner schöpferischen Grösse – auf seinen törichten Schädel hauen?
Jean-Baptiste Lully war nämlich der Begründer der französischen Nationaloper. Und als solcher nicht nur irgendein Komponist, sondern Louis XIV. Hauskomponist, der «surintendant de la musique du roi», und später gar der königliche Sekretär. Zumindest so lange, bis er es nicht mehr war, weil er sich allzu offenkundig mit einem Pagen des Königs vergnügte. Jene abseitigen homosexuellen Neigungen galt es zu verbergen und nicht zur Schande des Monarchen frei auszuleben, sodass, aus dem Flügel der Courtiers erst bloss scheu hinausgeflüstert, das Gerücht in den goldenen Gängen des Schlosses zur festen Form findet. Zum Spottlied wird, das aus hundert singenden Mündern kommend anschwillt und schliesslich ohrenbetäubend an den Wänden der Grande Galerie aufbrandet, alsbald von den 350 Spiegelflächen zurückgeworfen wird in die Mitte des Raumes, um dort den Sonnenkönig von seinem Thron zu fluten.
«Jean-Baptiste est bien affligé
Jean-Baptiste ist sehr betrübt
De voir son Brunet fustigé.
über die Züchtigung seines Brunet [besagter Page].
Il est jaloux du frère,
Er ist eifersüchtig auf den Bruder.
Eh bien, Qui fouette son derrière.
Nun, der seinen Hintern peitscht.
Vous m’entendez bien.
Sie hören mich gut.»
Der Page Brunet wurde zur Busse nach Saint-Lazare geschickt, dem Gefängnis an der Strasse von Paris nach Saint-Denis, in das Menschen gesperrt wurden, die ihre Familie in Verlegenheit gebracht hatten. Auch Lully war jener Tag im Januar 1685 zur Nacht geworden. Die Sonne wendete sich ab. Louis XIV. empfing ihn nicht mehr. Er hegte nicht einmal mehr den Wunsch, dessen frisch komponierten Opern zu hören.
In jener Zeit muss auch Jean-Baptiste Lullys Gesicht in sich zusammengefallen sein. Die Selbstgefälligkeit ward begraben unter dem vielen Fleisch, das sie bis anhin gestemmt hatte. Auch aus seinem Blick schossen keine Giftpfeile mehr, seine Augen waren zu blossen Bittstellern geworden, rund und flehend schauten sie heraus aus der Fleischruine.
War er doch als kleiner, 13-jähriger Giovanni Battista von Florenz an den französischen Hof gerufen worden, ein Müllerssohn, der Schwester und Bruder verloren hatte, bevor er sieben Jahre alt war. Von einem Franziskaner im Gitarrenspiel unterrichtet, fiel er zu Karneval dem französischen Gesandten auf, der einen geeigneten Italiener für die Nichte des Königs suchte, mit dem sie «Conversazione» machen konnte. Dieser Junge war ein Juwel, ein komödiantisches, musizierendes und tanzendes Wunder.
Giovanni Battista wurde der Spielkamerad des achtjährigen Königs, er brachte ihn zum Lachen, wirbelte ihn herum und betrat an seiner Seite die royalen Bühnen des Schlosses.
Jedes rohdiamantene Winkelchen seiner Gabe wurde nun am Hofe geschliffen und zur Vollendung gebracht. Aus Giovanni Battista Lulli wurde Jean-Baptiste Lully, mit 29 wurde er französischer Bürger, mit 49 französischer Adliger.
Und dann geschah es. Der Mann, der der Barockmusik die französische Ausprägung angedeihen liess, der gemeinsam mit Molière die Balletttragödie «Psyché» schuf und dazu noch die Musik zu 50 Bühnenwerken schrieb, fiel in Ungnade.
Von ganz oben fiel er nun herab auf die harten Bretter einer leeren Bühne. «Licht an!», «Licht an!», schrie es verzweifelt in ihm. Wie sehr vermissten seine Lieder das Ohr, sein Tanz das Auge seines Freundes, des Königs.
Doch Louis XIV. hatte bald andere Sorgen. Sie betrafen weder Ohr noch Auge, sondern sein Gesäss. Seit geraumer Zeit nämlich stuhlte er zum Schrecken seiner Leibärzte Blut, da half auch die «bouillon purgatif» nichts, jenes Süppchen aus Schlangenpulver, Weihrauch und Pferdemist, das seine träg gewordenen Gedärme dazu anhielten, sich 14 bis 18 Mal am Tag zu entleeren.
Was an seinem Anus zu wuchern begann, wurde bedrohlich und immer bedrohlicher, sodass der ganze Hof schon um das Leben seiner Sonne fürchtete. Doch dann eilte der Sorbonner Chirurg Charles-Francois Félix de Tassy herbei. Mit seinem eigens für «la grande opération» erfundenen Skalpell, einem wunderlich gebogenen Messer – dessen Eignung er erst an 75 Pariser Landstreichern erprobte – trennte er das Geschwür von seinem Träger.
Louis XIV. genas. Und Lully, sich in der Hoffnung wähnend, so ein zurückgeschenktes Leben stimme den Monarchen sicher verzeihlich, begann sofort damit, sein «Te Deum» (1678) jener gottgleichen Auferstehung anzupassen, auf dass er bei den Feierlichkeiten mitwirken, ja sie mit seinem Beitrag überhaupt erst dem unsterblichen König würdig machen kann.
«Te Deum» war Louis' Lieblingsstück. Ein «grand motet», ein vokales Werk mit biblischen Texten, sakrale Musik also, zu deren Veredelung Lully unerschrocken Trompeten und Trommeln vom Schlachtfeld in die Kirche holte. Französischer Barock vermochte das. Jean-Baptiste Lully vermochte das. Die Église des Feuillants in Paris, wo er am 8. Januar 1687 sein Festkonzert zur Genesung des Königs gab, sollte beben unter den Paukenschlägen seines Genies.
Und das tut sie. 150 Musiker dirigiert Lully eigenhändig mit seinem schulterhohen, reich verzierten Stock, mit dem er den Takt wütend auf den Boden stampft. Er schlägt den Boden, drischt geradezu auf ihn ein. Denn die Sonne war nicht gekommen. Louis XIV. wollte seinem Meisterwerk nicht lauschen. All die Mühe umsonst! All seine kunstvoll eingewobene Lobpreisung verhallte nun sinnlos in jenem Gemäuer des heiligen Bernhards.
Jean-Baptiste Lullys Gesicht wurde hart wie Stein. Das viele Fleisch darin stand still, keiner seiner gekränkten Schläge liess es erzittern, da war kein Wabern und auch keine Welle, die einen Hauch von Bewegung, ein klein wenig übrig gebliebene Weichheit hätten verraten können.
Er war reiner Zorn. Und in jenem heillosen Zustande rammte er sich seinen Taktstock in die Fussspitze.
Die Wunde war zu Anfang kaum der Rede wert, ein bläuliches Hügelchen auf dem kleinen Zeh, doch sie entzündete sich schnell, schwoll eitrig und stinkend an, erfasste den ganzen Fuss und bald auch das Bein. Sein Arzt riet ihm, es amputieren zu lassen, doch ein anderer Heilkünstler wurde Lully vorstellig, und dessen Aussichten schienen dem Komponisten weitaus annehmlicher: Das Bein dürfe bleiben, wo es sei, er würde ihn auch so heilen.
Er tat es nicht. Jean-Baptiste Lully starb seinem zerfressenen Bein am 22. März 1687 hintendrein.